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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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schmeichlerisch.
    »Natürlich hätten wir die füllen können! Aber das Innenministerium hatte Bedenken wegen öffentlicher Unruhen. Während ich der Meinung bin: Je größer die Menge, desto stärker die Lektion.«
    Trotzdem kamen mir zwanzigtausend viel vor. Der Lärm der Menge war gedämpft, aber unheilvoll, wie das Atmen eines gewaltigen Tieres, das vorübergehend ruhig dalag, aber binnen eines Augenblicks gefährlich zuschnappen konnte. Kurz vor acht erschien eine Eskorte Kavallerie, die an der Menge vorbeitrabte, und plötzlich begann sich die Bestie zu regen, weil zwischen den Reitern eine von vier Pferden gezogene Gefangenenkutsche zu sehen war. Eine Woge aus höhnischem Gejohle erhob sich und schwappte über die Kut sche hinweg. Die Kolonne verlangsamte ihr Tempo, ein Tor wurde geöffnet, und das Gefährt und seine Bewacher klapperten über das Kopfsteinpflaster in die École.
    »Schauen Sie genau hin, Major Picquart«, sagte ein Mann neben mir, während die Kutsche im Innenhof verschwand. »Die Römer warfen den Löwen Christen zum Fraß vor, wir nehmen Juden. Das nennt man wohl Fortschritt.«
    Er war in einen Wintermantel mit hochgestelltem Kragen gehüllt, trug einen grauen Schal um den Hals und eine tief ins Gesicht gezogene Mütze. Als Erstes erkannte ich ihn an seiner Stimme, dann an dem hemmungslosen Zittern seines Körpers.
    Ich salutierte. »Oberst Sandherr.«
    »Von wo schauen Sie sich das Schauspiel an?«, fragte Sandherr.
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Sie können mich und meine Männer gern begleiten.«
    »Es wäre mir eine Ehre. Aber zuerst muss ich noch überprüfen, ob alles nach den Anweisungen des Ministers abläuft.«
    »Erfüllen Sie Ihre Pflichten, wir erwarten Sie dann dort drüben.« Er zeigte mit zitternder Hand quer über die Cour Morland. »Von da hat man einen guten Blick.«
    Meine Pflichten! Im Rückblick frage ich mich, ob er das sarkastisch gemeint hat. Ich ging hinüber zum Garnisons büro, wo sich der Gefangene in Gewahrsam von Hauptmann Lebrun-Renault von der Republikanischen Garde befand. Ich hatte kein Verlangen, den Verurteilten wiederzusehen. Er war vor zwei Jahren genau in diesem Gebäude einer meiner Studenten gewesen. Ich hatte ihm nichts zu sagen. Ich empfand nichts für ihn. Ich wünschte, er wäre nie geboren worden, und jetzt wollte ich, dass er verschwand – aus Paris, aus Frankreich, aus Europa. Ein Soldat holte Lebrun-Renault, der sich als großer junger Mann mit einem roten Pferdegesicht entpuppte und mir eher wie ein Polizist vorkam. Der Hauptmann erstattete Bericht. »Der Verräter ist nervös, aber ruhig. Ich glaube nicht, dass er Ärger macht. Man hat die Fäden seiner Uniform gelöst und seinen Säbel eingekerbt, damit er leicht bricht. Nichts bleibt dem Zufall überlassen. Wenn er versucht, eine Rede zu halten, wird General Darras der Kapelle ein Zeichen geben, in deren Marsch der Redner dann untergeht.«
    »Welchen Marsch man wohl wählt, um einen Redner untergehen zu lassen?«, sagt Mercier nachdenklich.
    »Vielleicht ein Seemannslied, Herr Minister«, sagt Boisdeffre.
    »Der war gut!«, sagt Mercier bedächtig. Aber er lächelt nicht, er lächelt nur selten. Er wendet sich wieder an mich. »Dann haben Sie also das Zeremoniell zusammen mit Sandherr und seinen Männern beobachtet. Was halten Sie von denen?«
    Unsicher, was ich ihm antworten soll – schließlich ist Sand herr Oberst –, wähle ich vorsichtig meine Worte. »Passionierte Patrioten, die unschätzbare Arbeit leisten und dafür wenig oder gar keine Anerkennung erhalten.«
    Eine gute Antwort. So gut, dass sie vielleicht mein ganzes Leben veränderte – und damit auch die Geschichte, die ich im Begriff bin zu erzählen. Wie auch immer, Mercier, oder der Mann hinter der Maske Merciers, schaut mich eindringlich an, als wollte er sich vergewissern, ob ich das wirklich ernst meinte, und nickt dann zustimmend. »Sie haben recht, Picquart. Frankreich verdankt ihnen viel.«
    Die sechs Musterpatrioten waren an diesem Morgen vollzählig anwesend, um der Krönung ihrer Arbeit beizuwohnen: der Arbeit der Statistik-Abteilung des Generalstabs, wie ihr beschönigender Name lautete. Nach meinem Gespräch mit Lebrun-Renault stieß ich zu ihnen. Sie standen etwas abseits von allen anderen in der südwestlichen Ecke des Exerzierplatzes im Windschatten eines der niedrigen, rundum laufenden Gebäude. Sandherr hatte die Hände in die Taschen gesteckt, hielt den Kopf gesenkt und machte einen vollkommen abwesenden

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