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Intrige (German Edition)

Intrige (German Edition)

Titel: Intrige (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ihn genau vor mir.«
    Wieder erklang Dreyfus’ laute Stimme. »Lang lebe Frankreich! Ich schwöre, ich bin unschuldig!«
    Dann begann er seinen langen Marsch entlang den vier Seiten der Cour Morland. In seiner zerrissenen Uniform schritt er jede Einheit ab, damit die Soldaten sich immer daran erinnerten, wie die Armee mit Verrätern umging. Gelegentlich rief er: »Ich bin unschuldig!«, was höhnisches Gejohle und Rufe wie »Judas!« oder »jüdischer Verräter!« seitens der Menge hervorrief. Die gesamte Prozedur schien sich endlos hinzuziehen, obwohl sie meiner Uhr nach höchstens sieben Minuten dauerte.
    Als Dreyfus in unsere Richtung ging, war gerade der Mann aus dem Außenministerium mit dem Fernglas an der Reihe. »Ich verstehe das nicht«, sagte er mit seiner gelangweilten Stimme. »Wie kann der Bursche nach einer derartigen Erniedrigung immer noch behaupten, dass er unschuldig ist? Wenn er wirklich unschuldig wäre, dann müsste er doch dagegen ankämpfen, anstatt sich so zahm herumführen zu lassen. Oder ist das ein Wesenszug der Juden, was meinen Sie?«
    »Natürlich ist das ein Wesenszug der Juden!«, erwiderte Sandherr. »Das ist eine Rasse ohne jeden Patriotismus, ohne Ehre oder Stolz. Sie kennen nichts anderes, nur Verrat an den Menschen, mit denen sie seit Jahrhunderten zusammen leben. Seit Jesus Christus.«
    Als Dreyfus an uns vorbeiging, wandte ihm Sandherr zum Zeichen seiner Verachtung den Rücken zu. Ich jedoch konnte meinen Blick nicht von ihm losreißen. Ob wegen der drei Monate im Gefängnis oder wegen der bitteren Kälte an jenem Morgen, sein Gesicht war grauweiß und aufgedunsen: die Farbe einer Made. Der knopflose schwarze Uniformrock stand offen, darunter war sein weißes Hemd zu sehen. Das spärliche Haar stand in Büscheln ab, und irgendetwas glänzte darin. Immer noch ging er im Gleichschritt, als er mit seinen Wachen an uns vorbeimarschierte. Er schaute in unsere Richtung, und kurz begegneten sich unsere Blicke. Ich blickte direkt in seine Seele, sah die animalische Angst, sah den verzweifelten psychischen Kampf, der ihn vor dem Zusammenbruch bewahrte. Als er weiterging, begriff ich, dass das Glänzende in seinem Haar Spucke war. Er muss sich gefragt haben, welche Rolle ich bei seinem Untergang gespielt habe.
    Nur eine Etappe seines Golgathas war noch übrig: entlang den Absperrungen direkt an der Menschenmenge vorbei, für ihn die schwierigste, da bin ich mir sicher. Die Polizei versuchte, die Menschen mit verschränkten Armen auf Abstand zu halten. Aber als die Zuschauer den Gefangenen näher kommen sahen, drängten sie vorwärts. Der Polizeikordon quoll nach vorn, spannte sich und zerriss. Eine Flut von Zuschauern ergoss sich auf das Pflaster und lief zu den Absperrungen. Dreyfus blieb stehen, drehte sich um, hob die Arme und sagte etwas. Da er mir den Rücken zuwandte, konnte ich nichts verstehen, nur die vertrauten Verhöhnungen wie »Judas!« und »Verräter!« und »Tod dem Juden!«, die ihm ins Gesicht schlugen.
    Seine Eskorte zog ihn schließlich weg und schob ihn zu der Gefängniskutsche, die mit ihren Vorreitern nur ein paar Meter entfernt wartete. Die Hände des Verurteilten wurden mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Er stieg in die Kutsche. Die Türen wurden geschlossen und verriegelt, Peitschen knallten, und die Kutsche schoss durch das Tor hinaus auf die Place de Fontenoy. Einen Augenblick lang hatte ich meine Zweifel gehabt, ob sie den herandrängenden Menschen entkommen würde, die mit den Fäusten auf die Seitenwände der Kutsche zu schlagen versuchten. Aber die Kavallerieoffiziere trieben sie mit den flachen Seiten ihrer Säbel zurück. Dann hörte ich zweimal die Peitsche knallen, danach ein Kommando des Kutschers, die Kutsche beschleunigte, löste sich aus dem Mob, bog nach links ab und verschwand.
    Kurz danach erhielten die Kompanien den Befehl zum Abmarsch. Das Stampfen der Stiefel ließ den Boden erzittern. Hörner ertönten, Trommeln schlugen den Takt. Als die Kapelle Le Régiment de Sambre-et-Meuse zu spielen begann, fing es an zu schneien. Ich fühlte eine große Erleichterung. Ich glaube, wir alle waren erleichtert. Spontan schüttelten wir uns die Hände. Es war, als hätte sich ein gesunder Körper von etwas Verfaultem, Schädlichem befreit, damit das Leben jetzt von Neuem beginnen konnte.
    •
    Ich beende meinen Bericht. Im Zimmer des Ministers herrscht Stille. Nur das Prasseln des Kaminfeuers ist zu hören.
    »Schade nur, dass der Verräter am

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