Intrusion
Waldboden fallen.
Nun trat sie zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, eine Hand unter dem Kinn, und beobachtete, wie Mondlicht auf das Gemälde fiel. Sie schien auf etwas zu warten. Sie schüttelte den Kopf, vielleicht enttäuscht, und murmelte Worte, die nicht bis zu ihnen an den Rand der Lichtung drangen.
Muse ging zum nächsten Gemälde, starrte es eine Weile an, dann zum nächsten, bis sie den Kreis vollendet hatte. Es war klar, dass irgendetwas sie beunruhigte.
Aden konnte die Bilder nicht in allen Einzelheiten erkennen, mit Ausnahme der neuen Leinwand, die sie eben erst enthüllt hatte. Aus der Ferne wirkten viele Details verschattet. Er sah eine Gestalt in einem schwarzen Umhang, mit bösen, blutrot funkelnden Augen. Sie stand über einem gähnenden Riss in der Erde, beide Füße gegen den Abgrund gestemmt. Und Aden war sicher, dass diese Augen ihn anstarrten, dass diese Blicke ihn durchdrangen.
Er zuckte zusammen, als Charm dicht neben seinem Ohr raunte: »Sie wartet. Sie will, dass sie erwachen. Aber nichts geschieht, und sie weiß nicht, warum. Sie hat Angst. Wahrscheinlich befürchtet sie, dass sie ihre magischen Kräfte verloren hat. Siehst du diese Bilder? Sie sind ihr Schoß. Das Mondlicht erweckt sie zum Leben, so wie es uns zum Leben erweckte, und sie treten aus ihren Rahmen. Nicht alle werden lebendig. Die im Schloss haben keine Ahnung, dass sie diese Macht besitzt. Und selbst wenn sie es wüssten …« Charm stieß ein leises, boshaftes Lachen aus. »Was könnten sie tun? Sie half bei der Entstehung der Welt. Warte, bis die da erwachen! Wenn sie es je tun.«
Er betrachtete angestrengt die übrigen Porträts, konnte aber keine Einzelheiten ausmachen. Die blutroten Augen starrten ihn immer noch durchdringend an. »Können wir gehen?«, fragte er sie.
Charm warf ihm einen sonderbaren Blick zu. Sie hatte ihn, wie es schien, zum Augenzeugen eines Verbrechens gemacht und erwartete nun, dass er ihre Empörung teilte.
Sie erhob sich und gab ihm durch einen Wink zu verstehen, dass er ihr folgen solle. Leise schlichen sie davon.
Auf der Lichtung glaubte Muse im Augenwinkel kurz einen weißen Schimmer zwischen den Bäumen zu sehen, aber gleich darauf war er verschwunden, und sie schenkte der Sache keine weitere Beachtung.
»Also gibt es noch mehr von unserer Sorte?«, fragte er. Sie mussten nicht mehr darauf achten, leise zu gehen. Die Morgendämmerung war noch fern. Hin und wieder hallten die Rufe von Nachtvögeln durch den Wald.
»Ja«, entgegnete Charm. »Aber es sind nicht mehr viele übrig. Slythe, der Meuchelmörder, gehört zu uns. Er lebt im Schloss. Und vermutlich noch ein paar andere. Wir unterscheiden uns von den normalen Menschen. Muses Geschöpfe besitzen in der Regel irgendeine besondere Gabe. Ich hoffe, du bekommst nie das Talent von Slythe zu spüren – obwohl das keineswegs ausgeschlossen ist. Er macht sich einen Spaß daraus, uns zu jagen.«
»Worin besteht meine Gabe? Ich kann nichts Besonderes an mir feststellen.«
»Etwas an dir muss außergewöhnlich sein.« Sie drehte sich um und betrachtete ihn abschätzend. »Es ist verborgen, was immer es sein mag. Du kommst nicht von hier, sagst du? Das ist schon mal ein Unterschied. Aber es muss noch etwas anderes geben.«
Sie führte ihn über kleine Rinnsale, umgestürzte, dick mit Moos überwachsene Stämme, durch ein so verschlungenes Gewirr von Trampelpfaden, dass er jeden Richtungssinn verloren hatte, geschweige denn sagen konnte, wo sich die Kirche, der Fluss oder das Haus der Gorrs befand. Endlich, endlich zog der Morgen herauf; sie konnten auf Charms Aura als Wegweiser verzichten, und das war gut so, denn solange das Licht sie umfloss, vermochte er kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. »Eine lange Nacht«, stellte er fest.
»Sie dehnen sie nach ihrem Gutdünken aus. Die Zeit wird verlangsamt, aber nicht angehalten. Nur die ganz Großen können sie völlig zum Stillstand bringen.« Sie schob sich zwischen hohen Farnwedeln durch, die an Hände mit weit gespreizten Fingern erinnerten. »Da wären wir. Das ist mein Heim, eines von mehreren. Wir befinden uns nicht allzu weit von der Stelle entfernt, wo ich auf dich stieß.«
Ein kleiner Bach plätscherte an einer Felsvertiefung in der Flanke eines Hügels vorbei. Decken und Bettzeug, wahrscheinlich Geschenke der Männer, die sie verehrten, säumten die hinteren Höhlenwände. In der Nähe eines halb erloschenen Feuers standen einige mit Tüchern zugedeckte Körbe. Der
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