Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heather
Vom Netzwerk:
Geschichtsdarstellungen, dass es sich zumeist um neue Koalitionen handelte, die sich (in der Regel aus drei oder vier vorher getrennten Gruppen) erst auf römischem Boden gebildet hatten. Die West- und die Ostgoten, die merowingischen Franken, die Koalition der Vandalen und Alanen – sie alle waren eine neue Stufe in der Organisation politischer Strukturen der Barbaren. Und erst jetzt konnten Gruppen entstehen, die mit 20 000 und mehr Kriegern groß genug waren, um das Weströmische Reich zu Fall zu bringen. 8
    So unerwartet diese Entwicklung auch war, in einer Hinsicht war sie alles andere als zufällig. Die neuen und bedeutend größeren politischen Gebilde, die die Basis der Nachfolgereiche des Römischen Reiches darstellten, hätten jenseits der Grenze gar nicht entstehen können. Das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung an der Peripherie des Römischen Reiches im 4. Jahrhundert erzeugte nicht den nötigen Überschuss, der es einer politischen Führung ermöglicht hätte, so viele Anhänger an sich zu binden. Erst als es gelang, die wirtschaftlichen Ressourcen des Römerreichs direkt anzuzapfen, und der römische Staat einen zusätzlichen Anstoß zur Einigung lieferte, waren die Voraussetzungen für die Entstehung dieser politischen Gemeinwesen gegeben. 9
    Wenn jedoch die »Völkerwanderung« die Entwicklungsmuster des Barbaricum, wie sie sich in der Zeit der Römerherrschaft abzuzeichnen begannen, gleichsam vollendete, brachte sie im Ergebnis eine völlige Umgestaltung der Entwicklungsmuster in Europa. Die neuen Reiche, die auf ehemals römischem Territorium entstanden, machten das imperiale Europa deutlich weniger imperial. Das Machtzentrum Westeuropas verschob sich um das Jahr 500 entschieden Richtung Norden. In der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends gab es keine Großmacht mehr, die ihren Schwerpunkt im Mittelmeerraum hatte, sondern eine Reihe zumeist fränkischer Dynastien, deren wirtschaftliches und demographisches Zentrum nördlich der Alpen zwischen Atlantik und Elbe lag. Auch dies kann als Ergebnis von Entwicklungen gesehen werden, die sich bereits vorher anbahnten. Die Tatsache, dass die Machtbasis des neuen westeuropäischen Reiches aus einem Teilstück des ehemaligen Römischen Reiches und weiten Gebieten seiner einstigen Peripherie bestand, verdeutlicht, wie sehr sich diese Peripherie in den vorausgegangen Jahrhunderten durch den Kontakt mit dem Römischen Reich verändert hatte. Um die Zeitenwende hätte dieses Gebiet beiderseits des Rheins niemals zur Grundlage einer Imperialmacht werden können, dazu war es weder reich noch dicht besiedelt genug. In der ersten Hälfte des 1. Jahrtausends änderte sich dies von Grund auf. Gleichzeitig bildeten sich im nachrömischen, fränkisch dominierten westlichen Europa politische Strukturen aus (insbesondere mit der Militarisierung seiner landbesitzenden Eliten), die das neue Reich von seinem römischen Vorläufer unterschieden. Da dieses die Landwirtschaft nicht systematisch zu besteuern vermochte, war es ein weniger dominantes und weniger autonomes Gebilde, das sich durch Expansion die nötigen Ressourcen beschaffen musste, um die staatstragende Schicht der Landbesitzer an sich zu binden. Verhinderten die allgemeinen Umstände eine weitere Expansion, kam es rasch zur Zersplitterung, und die Macht verlagerte sich vom Zentrum in die Peripherie. Phasen einer starken, zentral gebündelten, nach außen aggressiv auftretenden Staatsgewalt – Kennzeichen einer Imperialmacht – wechselten in der zweiten Jahrtausendhälfte mit Phasen der Uneinigkeit ab. Die in der ersten Jahrtausendhälfte existierenden Ungleichheiten wurden in einem gewissen Maß von oben her eingeebnet, indem das imperiale Europa weniger imperial wurde.
    Grundsätzlicher und interessanter, weil so viel seltener diskutiert, war die Auswirkung der »Völkerwanderung« auf das barbarische Europa. Im 6. Jahrhundert war das von Germanen beherrschte Europa, wie es in der Römerzeit existiert hatte, fast ganz zusammengebrochen. Während bis ins 4. Jahrhundert hinein in einem riesigen Gebiet, das vom Rhein bis an die Weichsel und den Don reichte, ähnliche sozioökonomische und politische Strukturen bestanden hatten, waren die Nachkommen der Germanen um 550 n. Chr. hauptsächlich auf das Gebiet westlich der Elbe beschränkt. Nur im Südosten zog sich ein germanisch dominierter Ausläufer bis in die Große Ungarische Tiefebene, der aber mit dem Auftauchen der Awaren bald verschwand (Karte 15). Bei

Weitere Kostenlose Bücher