Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
dieser Umwälzung spielte die »Völkerwanderung« eine zentrale Rolle, wenngleich nicht dadurch, dass diese Landschaften durch sie entvölkert wurden. In manchen Gebieten ging zwar die Zahl der Siedlungen zurück, doch der Exodus, der vom 4. bis zum 6. Jahrhundert das germanische Mittel- und Osteuropa erfasste, beraubte diese Landstriche keineswegs ihrer gesamten Bevölkerung. Allerdings verließen im Verlauf der »Völkerwanderung« bewaffnete und organisierte Eliten weite Teile der alten inneren und äußeren Peripherie des Römischen Reiches. Aus der Perspektive des barbarischen Europa brach jetzt nicht nur das Römische Reich zusammen, sondern auch die größeren staatsähnlichen Gebilde an dessen Peripherie, die sich im Zuge der Migration in die ehemals innere Peripherie (zwischen Rhein und Elbe und der Großen Ungarischen Tiefebene) verlagerten – und natürlich auch auf das Territorium des Weströmischen Reiches.
Diese erste wirkliche Revolution im barbarischen Europa markierte eine Zäsur in einer mehr als ein halbes Jahrtausend andauernden, größtenteils kontinuierlichen Entwicklung weiter Teile Mittel- und Osteuropas. Dadurch wurde eine zweite, nicht minder dramatische Transformation ermöglicht. Mit dem Zusammenbruch der germanischen Welt traten Bevölkerungsgruppen aus der dritten Zone Europas erstmals in einen echten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Austausch mit dem übrigen Europa. Die Römer hatten einige Kenntnisse über die Veneder, die in jener am wenigsten entwickelten Zone siedelten. Tacitus wusste im 1. Jahrhundert von ihrer Existenz und lokalisierte sie jenseits der Weichsel und der Karpaten. Ptolemäus konnte ein paar Generationen später einige ihrer größeren Gruppen namentlich benennen. Erstaunlicherweise gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass diese Populationen in die politischen Ereignisse der ersten Jahrtausendhälfte hineingezogen wurden. Es ist uns nicht ein einziger Überfall der Veneder auf die Römer überliefert, sie tauchen nirgends in den Schilderungen der Markomannenkriege des 3. Jahrhunderts auf und scheinen noch nicht einmal in Attilas Reich eingebunden gewesen zu sein, das so viele andere Gruppen Mittel- und Osteuropas umfasste. Nichts deutet darauf hin, dass die Römer von diesen Gruppen östlich der Weichsel und nördlich der Karpaten Waren bezogen oder dass diese sonst in den Handelsnetzwerken, die sich zuvor über das gesamte Barbaricum erstreckten, eine größere Rolle gespielt hätten, obwohl einige Routen auch durch ihre Gebiete verlaufen sein müssen.
Mehr oder weniger unmittelbar nach dem Zusammenbruch des germanischen Europa tauchen die slawisch sprechenden Gruppen aus der dritten, langsamen Zone jedoch zunehmend in historischen Berichten auf. Um 500 n. Chr. waren sie im Süden und Osten der Karpaten an die römische Grenze gestoßen und unternahmen dort Überfälle. Die Fähigkeit dazu erwarben sie möglicherweise in vorangegangenen Auseinandersetzungen mit den Goten und anderen besser organisierten Gruppen, die in unseren Quellen mehr oder weniger unerwähnt bleiben. 10 Wie auch immer, die neuen Kontakte mit dem Oströmischen Reich beschleunigten die Entwicklungsprozesse unter den beteiligten Slawen enorm. Hinzu kamen Subsidienzahlungen und Reichtum durch Raubgut, wie sie ihn bislang noch nicht kannten. Dadurch wurden ihre Militarisierung und die Ausbildung größerer politischer Strukturen gefördert. Dies wiederum ermöglichte es ihnen, die Vorteile zu maximieren, die sie aus der neuen Beziehung zu den Territorien Konstantinopels zogen. All das lief parallel zu weiteren Veränderungen, wie wir sie aus der Phase der frühen germanisch-römischen Kontakte kennen. Als das germanische Europa um 550 zusammenbrach, waren die Slawisch sprechenden Gruppen bereits die barbarischen »Anderen« schlechthin geworden, die der oströmischen Zivilisation im südöstlichen Europa zusetzten.
An diesem Punkt ereignete sich ein zweiter nomadischer »Unfall«, der die Entwicklung beeinflusste und zum Katalysator der weiteren Umgestaltung des barbarischen Europa wurde. Die Awaren errichteten ähnlich den Hunnen innerhalb kurzer Zeit ein mächtiges Militärbündnis in Mitteleuropa, dessen Haupteffekt darin bestand, die immer noch in großer Menge erzeugten Reichtümer des Mittelmeerraums in das nun weitgehend slawisch dominierte Mitteleuropa zu transferieren. Dies heizte natürlich den Wettbewerb um die Kontrolle dieser Reichtümer noch weiter an, der bereits
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