Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
vor der Ankunft der Awaren eine neue Art von militärgestütztem Königtum in der slawischen Welt hervorgebracht hatte. Auch die Awaren konnten ihre zahlreichen unterworfenen Gruppen nicht direkt regieren, sie stützten sich ähnlich den Hunnen auf Anführer, die zum Teil aus den unterworfenen Gruppen selbst stammten. Genauere Informationen haben wir nicht, aber man kann vermuten, dass sie damit die gesellschaftliche Position dieser Klasse von Anführern festigten, was letztendlich die politische Einigung ihrer slawischen Untertanen förderte. 11 Das Auftauchen der Awaren gab schließlich den Anstoß zur Entstehung einer größeren slawischen Diaspora, da einige slawische Gruppen fortzogen, um der Awarenherrschaft zu entkommen. Große slawische Ansiedlungen – im Gegensatz zu bloßen Plünderungen – im ehemals oströmischen Balkan wurden nur möglich, weil das Awarenreich Konstantinopels militärische Überlegenheit in der Region zerstörte, wozu allerdings auch Persien und die Araber beitrugen. Aber zumindest einige Slawen waren durch den Wunsch, der Herrschaft der Awaren zu entkommen, ebenso stark negativ motiviert, wie sie das positive Bedürfnis verspürten, sich auf römisches Territorium zu begeben. Anderswo fehlen die historischen Berichte, aber der Wunsch, sich der Awarenherrschaft zu entziehen, spielte bei der Ausbreitung slawischer Gruppen ab 550 sicherlich eine entscheidende Rolle. Sie zogen westwärts zur Elbe, nordwärts zur Ostsee und sogar ostwärts in das Herz Russlands und der Ukraine. Es bleibt unklar, ob man bei dieser Expansion nach Osten überhaupt von einem ersten Vordringen von Slawen in das westliche Russland sprechen kann oder ob wir es hier nicht vielmehr mit der Ausbreitung bestimmter Slawisch sprechender Gruppen zu tun haben, die durch den Austausch mit Ostrom und den Awaren politisch besser organisiert und militärisch besser gerüstet und damit in der Lage waren, andere, in dieser Hinsicht benachteiligte Slawisch sprechende Gruppen zu dominieren.
Wie dem auch sei, eng verbunden mit dem Prozess der Slawisierung sind bestimmte Migrations- und Entwicklungsprozesse. Den Gruppen, die von dem neuen Reichtum profitierten, gelang dies nur, weil sie bereits nach dem Zusammenbruch des Hunnenreichs in den Orbit des Römischen Reiches gezogen waren. Die soziopolitische Revolution, die sie dabei erlebten, bereitete den Boden für die Ausdehnung ihrer Herrschaft über weite Teile Mittel- und Osteuropas im Zuge einer Migration. Im Verlauf dieses Prozesses absorbierten sie einen Teil der gewiss immer noch zahlreichen alteingesessenen Bevölkerung dieser Regionen, die den germanischen Kulturkollaps überstanden hatte. Dies wird teilweise friedlich abgelaufen sein, wie oströmische Quellen nahelegen. Doch bei vielen slawischen Gruppen jener Zeit fand eine starke Militarisierung statt, und die Slawisierung brachte eine erstaunliche Vereinheitlichung. So kann es sein, dass einige slawische Gruppen, insbesondere solche vom Korčak-Typ, bis zum Jahr 600 oder sogar noch länger friedliche Kleinbauern blieben, bei vielen anderen jedoch vollzog sich ein rascher Transformationsprozess, in dessen Verlauf der neue Reichtum eine soziale Differenzierung und Militarisierung bewirkte. Träger der Slawisierung Europas waren die bewaffneten und aggressiven Slawen, nicht die Korčak-Bauern. Dies gilt insbesondere für jene Teile Russlands, in denen Gruppen von wenigen hundert Personen die Slawisierung vorantrieben, indem sie in feindlichem Gebiet eine befestigte Siedlung nach der anderen errichteten.
Die Geburt Europas
Der oströmische Reichtum und das awarische Zwischenspiel sind nur die Ausgangspunkte eines umfassenderen Entwicklungsprozesses, der in der zweiten Hälfte des 1. Jahrtausends das weiträumige Gebiet des slawisch dominierten Europa erfasste. Bis zum 10. Jahrhundert entstanden hier die ersten staatsähnlichen dynastischen Gebilde, deren Herrschaft allerdings noch beschränkt war und einen klaren Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie aufwies. Eine Regierung nach dem Muster des Reisekönigtums war nicht in der Lage, in so großen Territorien die Zügel überall gleich fest in der Hand zu haben. Dies zeigt sich an der großen Bereitschaft der neuen Reiche, ausgedehnte, an den Grenzen zwischen den Territorien liegende Landstücke untereinander zu tauschen. Dennoch waren diese in der Lage, beeindruckende zentral gesteuerte Aktivitäten zu organisieren. Sie waren nicht nur räumlich bedeutend größer
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