Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
Abgaben, die Vannius von den römischen Kaufleuten erhoben hatte. Auch wenn es sich nicht direkt beweisen lässt, bin ich mir sicher, dass dies kein Einzelfall blieb. Blitzüberfälle waren jedoch keineswegs der effektivste Weg, sich im Hinterland des Römischen Reiches etwas von dessen Wohlstand zu holen. Vom Handel und von der römischen Diplomatie profitierte man im unmittelbaren Grenzgebiet am besten, und auch Überfälle ließen sich von hier aus bequemer durchführen. Für ambitionierte Gruppen und ihre Führer aus der äußeren Peripherie lag es also nahe, ins Grenzgebiet umzusiedeln. Es ist daher kaum überraschend, dass sich aus den Plünderungsaktionen im 2. und 3. Jahrhundert ein Migrationsstrom von der äußeren Peripherie her entwickelte.
Doch schon seit dem Ende des 1. Jahrhunderts waren alle lukrativen Plätze entlang der Grenze von Kriegsfürsten besetzt, von denen keiner seine vorteilhafte Position ohne weiteres aufgeben wollte. Jede dauerhafte Umsiedlung in Richtung der römischen Grenze bedeutete daher zwangsläufig die Zerstörung existierender politischer Strukturen. Das erklärt, warum zu den Migrationsströmen im 2. und 3. Jahrhundert Bewaffnete gehörten, die nach Tausenden zählten, und nicht mehr bloß Kriegerverbände von 100 oder 200 Mann, die für einen schnellen Raubzug ausreichten.
Es lohnt sich, dieses Migrationsmuster mit jüngeren und besser dokumentierten Beispielen zu vergleichen. Raubzüge, die von Tausenden Bewaffneter unternommen werden, gibt es heute in der Regel nicht, was gelegentlich als Begründung dafür angeführt wird, dass sie auch in der Vergangenheit nicht vorgekommen sein können. Doch ähnliche Aktionen hat es in nicht allzu ferner Zeit gelegentlich durchaus gegeben, beispielsweise den Großen Treck der Buren. Die Buren konnten sich allerdings mit kleineren Trupps begnügen, da sie ihren Gegnern, den Zulu und Matabele, militärtechnisch haushoch überlegen waren. Im 2. und 3. Jahrhundert lag der technische Vorteil wahrscheinlich eher bei den Gruppen der inneren Peripherie, die sicherlich über römische Waffen verfügten. Die Angreifer von der äußeren Peripherie mussten also eine Streitmacht aufbieten, die jener der Könige im Zielgebiet mindestens ebenbürtig war.
Man muss auch bedenken, warum neuzeitliche Migrationsströme sich vor allem in Mikroeinheiten von einigen wenigen Personen bewegen, auch wenn die Gesamtstärke der Migration durchaus beachtlich ist. Die Größe der Migrationseinheit passt sich stets der Art und Weise an, in der heutige Migranten Zugang zum Reichtum der besser entwickelten Wirtschaftsregionen zu erlangen suchen. Entscheidend für den einzelnen Migranten ist es, einen vergleichsweise gut bezahlten Arbeitsplatz im Industrie- oder Dienstleistungssektor zu finden. Migrationseinheiten sind also nicht grundsätzlich eher klein, sie passen sich vielmehr den Möglichkeiten der höher entwickelten Wirtschaft an. Die gesamte Wirtschaft Europas im 1. Jahrtausend war agrarisch geprägt und technisch nicht sehr entwickelt. Daher boten sich auch in der höher entwickelten Peripherie des Römischen Reiches keine Arbeitsplätze für einzelne Migranten, wenn man davon absieht, dass einige wenige Aufnahme in das militärische Gefolge eines Grenzkönigs finden konnten. Wer an den Reichtümern dieser Welt partizipieren wollte, für den war es also keine erfolgversprechende Strategie, auf eigene Faust oder in einer kleinen Gruppe loszuziehen. Man musste schon mit einer Streitmacht aufkreuzen, jene besiegen, die bereits an Ort und Stelle Privilegien genossen, und sich dem Römischen Reich als wirtschaftlicher und politischer Partner im besetzten Grenzabschnitt andienen. Vergleichbare Migrationsgruppen gibt es in der heutigen Welt nicht, dennoch stehen sie völlig im Einklang mit der treibenden Kraft hinter allen Migrationsströmen. Großangelegte Raubüberfälle waren im 1. Jahrtausend das Mittel der Wahl zur Wohlstandsmehrung, so wie heute die individuelle Migration.
Das Wohlstandsgefälle kann auch die zweite Eigentümlichkeit der Bevölkerungsströme des 2. und 3. Jahrhunderts erklären: die Tatsache, dass so viele Krieger in Begleitung ihrer Frauen und Kinder kamen. Im germanisch dominierten Europa der ersten nachchristlichen Jahrhunderte wurde auf kleinen Bauernhöfen mit einfachster Technik ein magerer Nahrungsmittelüberschuss produziert. Diese Art des Wirtschaftens konnte keine größeren Kriegergefolge ernähren. Was die Könige im 4. Jahrhundert
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