Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
von ihren Untertanen an Nahrungsmittelabgaben eintrieben, reichte allenfalls für ein paar hundert Mann. Die Militäraktionen, die nötig waren, um sich eine lukrative Nische an der Römischen Grenze zu sichern, wären mit so wenigen echten Kriegern nicht durchzuführen. Deshalb rekrutierte man Kämpfer aus breiteren Schichten der Bevölkerung, von denen viele bereits Familienanhang hatten. Die Kämpfer wollten natürlich ihre Familien auf keinen Fall für längere Zeit schutzlos zurücklassen. So war es nur natürlich, dass germanische Kriegsexpeditionen von mehr als ein paar hundert Mann stets auch von zahlreichen Familienangehörigen begleitet wurden. Auch an den Kundschafterexpeditionen der Buren nahmen in geringer Zahl Frauen teil, doch die größeren Trecks waren immer gemischt, und wenn es ans Kämpfen ging, waren die Frauen mit von der Partie: Sie luden die Gewehre und schossen, wenn nötig, auch selbst. Die germanischen Frauen des 2. Jahrhunderts übernahmen ohne Zweifel ebenfalls wichtige Aufgaben, auch bei größeren Militäraktionen. So eigentümlich diese Migrationsströme von ihrer Größe und ihrer Zusammensetzung her anmuten, im Licht der vergleichenden Forschung entsprechen sie den Grundprinzipien jedes Migrationsverhaltens.
Jenseits der »Völkerwanderung«
Die Muster von Entwicklung und Migration, die sich während der Römerherrschaft ausbildeten, gipfelten in der sogenannten Völkerwanderung. Im späten 4. und 5. Jahrhundert tauchen in der europäischen Geschichte eine ganze Reihe von Migrantengruppen auf, die 10 000 oder noch mehr Krieger und einen großen Anhang umfassten und stark genug waren, die Konfrontation mit den militärischen und politischen Strukturen des Römischen Reiches zu wagen. Diese gewaltigen Migrationsschübe ereigneten sich in einem entscheidenden Augenblick am Schnittpunkt vieler Entwicklungslinien. Erstens hatten unter den Germanen Mitte bis Ende des 4. Jahrhunderts wirtschaftliche und politische Prozesse eingesetzt, die den Zusammenhalt und die Organisation solch riesiger Gruppen von Kriegern samt ihren Angehörigen überhaupt erst ermöglichten. Zweitens waren diese Strukturen während der Expansionsprozesse des 2. und 3. Jahrhunderts entstanden, die noch frisch genug im kollektiven Gedächtnis hafteten, um eine Migrationstradition auszubilden, die sich unter passenden Umständen reaktivieren ließ. Und drittens – dies hängt vielleicht mit dem vorigen Punkt zusammen – waren diese Gruppen wirtschaftlich nicht so fest im Ackerbau einer bestimmten Region verwurzelt, dass sie vor einem Ortswechsel zurückgeschreckt wären.
Sicherlich sind die Aktivitäten solcher großen Migrantengruppen vor dem Hintergrund der langfristigen Entwicklung der germanischen Welt und besonders angesichts der Krise des 3. Jahrhunderts erklärbar, wenn auch durchaus erstaunlich. Denn auch wenn sie größer waren und einen stärkeren Zusammenhalt besaßen als entsprechende Formationen im 1. Jahrhundert, war doch keine dieser Gruppen, die an der Peripherie auftauchten, für sich genommen groß genug, das Römische Reich mit einiger Aussicht auf Erfolg anzugreifen. Dass dies trotzdem gelang, war selbst wiederum die Folge des Zusammentreffens zufälliger Ereignisse und langfristiger Entwicklungen.
Erstens waren da die Hunnen, die, ohne dass es in ihrer Absicht gelegen hätte, den Anlass dafür schufen, dass sich viele weitgehend germanische Gruppen von jenseits der römischen Grenzen an Rhein und Donau in Richtung des römischen Territoriums in Marsch setzten, und dies zu einer Zeit, da der römische Staat zu schwach war, sie zurückzuschlagen. Wären diese Gruppen – selbst wenn sie größer und kohärenter gewesen wären – nicht alle gleichzeitig auf römischem Territorium eingetroffen, wären sie letztlich vernichtet worden. Andererseits waren es aber auch viel zu viele Gruppen, als dass sie sich auf einen gemeinsamen Plan zur Vernichtung des Römischen Reiches hätten einigen können. Zweitens erreichten die Prozesse der politischen Verschmelzung, die schon lange jenseits der Grenzen begonnen hatten, auf römischem Territorium relativ rasch ihren Höhepunkt. Dieser entscheidende Aspekt wurde von der traditionell nationalistisch ausgerichteten Geschichtsschreibung gewöhnlich übersehen. Indem man die Gruppen, die die Nachfolgereiche des Römischen Reiches bildeten, als schon seit grauer Vorzeit bestehende und im Kern unwandelbare »Völker« betrachtete, 7 übersahen die
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