Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)

Titel: Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Heather
Vom Netzwerk:
Atlantik bis zur Wolga zum ersten Mal ein Niveau, das den Begriff »Europa« mit Bedeutung erfüllte. Im Handel, in der religiösen Kultur, in den Herschaftsformen und selbst in der Landwirtschaft: Überall zeigten sich erhebliche Gemeinsamkeiten.
    Für unsere Betrachtungen sind diese Entwicklungsprozesse aber auch deshalb von Interesse, weil sie den Verhältnissen ein Ende setzten, die jene großen, auf Plünderung zielenden Migrationen ausgelöst hatten. Diese Form der Migration war geradezu das Markenzeichen Europas im 1. Jahrtausend, ob es sich nun um geballte Bevölkerungsbewegungen im Sinne von »Völkerwanderungen« handelte oder um einen langsam anschwellenden Migrationsstrom. Unterschiede im Entwicklungsgrad des europäischen Raumes verschwanden zwar nicht völlig, wurden aber deutlich geringer. Die neuen Handelsnetzwerke und die Ausweitung der landwirtschaftlichen Produktion bedeuteten, dass die neuen Machthaber in Mittel- und Osteuropa jetzt selbst in der Lage waren, auf ihrem eigenen Territorium Wohlstand zu generieren. Die Fortschritte im Ackerbau und in anderen Wirtschaftszweigen hatten auch zur Folge, dass sie ihre Operationen nun auf fester umrissene Regionen, vor allem ihr Kernland, konzentrierten.
    Die Anreize, die regelmäßige, positiv motivierte Migrationen großer Gruppen ausgelöst hatten, waren strukturell beseitigt oder zumindest in den Hintergrund getreten. Die Migration war im Europa des 1. Jahrtausend nie eine einfache oder allen offenstehende Option gewesen, sondern eher eine Strategie, die man wählte, wenn der zu erwartende Gewinn die Mühe und das Risiko lohnte, an einer Expedition in unzureichend bekannte Gebiete ohne Erfolgsgarantie teilzunehmen. Sobald es den sozialen Eliten möglich wurde, zu Reichtum zu kommen, ohne die Unwägbarkeiten einer solchen Umsiedlung auf sich zu nehmen, wählten sie diese Option erheblich seltener. Und je seltener Migration stattfand, desto unwahrscheinlicher wurde sie. Die zuvor fest verankerte Migrationsneigung verlor sich bei den Eliten und in der breiteren Bevölkerung, je stärker nachhaltigere Methoden der Bodenbewirtschaftung entwickelt wurden. Die Eliten wie auch die breitere Bevölkerung des barbarischen Europa wurden sesshafter, banden sich also stärker an bestimmte Orte und entschlossen sich deutlich seltener zur Migration. Vieles, was in früheren Zeiten einen Ortswechsel wahrscheinlich gemacht hätte, bildete nun keinen Anreiz mehr.
    Dies ist in meinen Augen die Erklärung für das Problem, mit dem dieses Kapitel begann. Während die Goten und andere Germanen (wenngleich sicher nicht alle) auf die Hunnengefahr so reagierten wie die Slawen auf die Bedrohung durch die Awaren, löste das Auftauchen der nomadischen Magyaren in der Großen Ungarischen Tiefebene keine weitere Migration aus. Die Reaktion, aber letztlich auch das Schicksal des Mährischen Reiches zeigen, wo der Unterschied lag: Statt zu fliehen, stellten sich die Mähren den Magyaren entgegen, wie die Armeen des Fränkischen Reiches auch. Die Mähren verloren den Kampf (die fränkischen Armeen anfangs ebenso), aber allein die Tatsache, dass die Mähren sich nicht zur Migration entschlossen, zeigt, dass sie am Ende des 1. Jahrtausends bereits stärker Wurzeln geschlagen hatten. Zuvor hatten allein schon die unterentwickelten landwirtschaftlichen Techniken für eine größere Mobilitätsbereitschaft im barbarischen Europa gesorgt, und große Ungleichheiten im Wohlstands- und Entwicklungsniveau hatten die Abenteuerlustigen unter den Barbaren von Zeit zu Zeit dazu bewegt, sich nach einem attraktiveren Fleckchen umzuschauen – was für gewöhnlich bedeutete, näher an die Quellen des Reichtums im Römischen Reich heranzurücken. Die Mähren dagegen errichteten steinerne Burgen und Kirchen mit den Reichtümern, die ihnen die intensivere Landwirtschaft und die Ausweitung des Handels brachten. Nachdem sie so viel investiert hatten, waren sie nicht mehr so schnell zum Wegzug bereit. Dasselbe gilt für die anderen neuen Dynastien des späten 1. Jahrtausends: Sie alle waren sehr viel stärker an bestimmten Orten verankert als vergleichbare politische Gebilde aus früherer Zeit. Jetzt verschwand das massive Wohlstandsgefälle, das einst große europäische Barbarengruppen zur Migration über weite Entfernungen veranlasst hatte. Die Bevölkerungen Mittel- und Osteuropas begannen nun, sich in ihrer Lebensumwelt fest zu verwurzeln.
    Was nicht heißt, dass es überhaupt keine Migration mehr

Weitere Kostenlose Bücher