Invasion der Barbaren: Die Entstehung Europas im ersten Jahrtausend nach Christus (German Edition)
Erklärungsfaktor für die Geschichte des 1. Jahrtausends verwerfen, sondern indem wir komplexere Migrationsmodelle heranziehen. Bei differenzierterer Betrachtung ist Migration nicht mehr nur die schlichte, allumfassende Alternative zu »komplexeren« Erklärungen, die sich stärker auf den sozialen, wirtschaftlichen und politischen Wandel stützen. Richtig verstanden – und das ist die zentrale Botschaft, die sich aus einer sorgfältigen vergleichenden Analyse ergibt – ist Migration nicht ein für sich und im Wettbewerb zu anderen bestehendes Erklärungsmodell der sozialen und ökonomischen Transformation, sondern deren Ergänzung. Migrationsmuster werden durch die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Bedingungen diktiert, ja sie sind eine Dimension dieser Entwicklung. Sie reflektieren bestehende Ungleichheiten, und manchmal sorgen sie sogar für ihren Ausgleich. Nur so betrachtet lassen sich Migrationsphänomene wirklich verstehen. An diese Überlegung schließt sich der Gedanke an, dass Prähistoriker vielleicht nicht zu voreilig die auf Plünderung angelegte Migration als Element der Frühgeschichte Europas verwerfen sollten. Migration und Plünderung wurden im 1. nachchristlichen Jahrtausend durch ein starkes Entwicklungsgefälle zwischen benachbarten Gebieten ausgelöst und von Gesellschaften getragen, deren Bauern auch zu kämpfen verstanden, da sie nicht fest an ihre Scholle gebunden waren. Solche Bedingungen muss es auch in anderen Kontexten gegeben haben, so dass man annehmen kann, dass auch sie Raubmigrationen auslösten.
Betrachtet man die Transformation des barbarischen Europa im 1. Jahrtausend insgesamt, so ist klar, dass Entwicklung eine sehr viel größere Rolle spielte als Migration. Ältere Erzählungen betrachteten die Sache umgekehrt und stellten das Auftauchen namentlich benannter Gruppen in klar definierten Gebieten im 1. Jahrtausend in den Mittelpunkt ihrer Beschreibungen, bis alle heutigen Nationen ihren Platz auf der europäischen Landkarte gefunden hatten. Für sie waren Ortswechsel und die Ankunft in einer bestimmten Region die Schlüsselereignisse der Geschichte; was sonst noch geschah, waren Detailfragen. Das ist eine völlig verzerrte Sicht der Dinge. Viel wichtiger als jene Momente, in denen eine Gruppe irgendwo auftauchte, was oft genug zu gar nichts führte, waren der dynamische Austausch zwischen den imperialen Mächten des höher entwickelten Europa und den Barbaren an ihrer Schwelle: in der ersten Jahrtausendhälfte hauptsächlich Germanen, in der zweiten zumeist Slawen. Dieser Austausch und nicht die einzelnen Migrationsereignisse brachten letztlich neue soziale, wirtschaftliche und politische Strukturen hervor, durch die das barbarische Europa am Ende des 1. Jahrtausends seinem imperialen Gegenpart so viel ähnlicher wurde. Das heißt nicht, dass diese Transformationen an sich etwas Gutes waren oder dass das imperiale Europa das bessere war. Doch aus den historischen Zeugnissen lässt sich schlussfolgern, dass die enormen Entwicklungsunterschiede der Zeitenwende durch die Kontakte des barbarischen mit dem imperialen Europa eingeebnet wurden.
Dies ist im Kern mein zweites Hauptargument. Nicht ganz Europa war um das Jahr 1000 christlich, und nicht überall gab es Reiche mit Burgen, Rittern und einer produktiven Landwirtschaft. Doch Tacitus, der im 1. Jahrhundert n. Chr. den Osten Europas als einen Landstrich beschrieb, dessen Bewohner »Antlitz und Mienen von Menschen, Gestalt und Gliedmaßen dagegen von wilden Tieren« zeigten, hätte sicherlich gestaunt. Zumindest nach seinen Begriffen gab es im barbarischen Europa um das Jahr 1000 keine Barbaren mehr. 13
Migration spielte bei der Entfaltung dieser Geschichte durchaus eine Rolle, manchmal sogar die Hauptrolle. Wenn man die Definition der Massenmigration oder der Migration großer Gruppen zugrunde legt, wie sie die vergleichende Forschung verwendet, wird deutlich, dass Migration ein zentrales Element an mehreren Wendepunkten jenes 1. Jahrtausends war. Der wichtigste von allen ist vielleicht das Auftauchen der Hunnen, jener große »Unfall« der Geschichte, der in kurzer Zeit genügend gut organisierte germanische Gruppen auf römisches Territorium führte, um die Zentralmacht Roms zu unterminieren und den Zusammenbruch der alten Machtstrukturen im barbarischen Mitteleuropa zu bewirken. Die Folge war eine große slawische Diaspora, deren kulturelle Konsequenzen – die großräumige Slawisierung Mittel- und
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