Irgendwann Holt Es Dich Ein
nach E-Mails und Telefonaten, hatten sie sich auf die Bedingungen geeinigt, und Susan war bereit, sich für seinen Dokumentarfilm über das Mobbing an der Lady Jane Grey befragen zu lassen. Das boshafteste aller boshaften Mädchen, wie Kate ihm erzählt hatte, die Domina in den gewagten schwarzen Stiefeln, wollte ihn gleich hier in ihrer alten Schule treffen. Neil freute sich schon darauf.
Susan hatte nur unter der Bedingung zugestimmt, dass Neil selbst als Kamera- und Tonmann fungierte, sprich: sie unter sich wären. Und sie verlangte, das Video zu sehen, um erst danach zu entscheiden, ob er es in seinem Film verwenden dürfe oder nicht. Normalerweise hätte Neil sich auf derlei Bedingungen bei einem Interview mit einem gewöhnlichen Bürger nie eingelassen, aber in diesem Fall ... Etwas an Susan machte ihn neugierig. Er brauchte sie für die Geschichte, die er erzählen wollte. Er wollte hören, was sie über ihre beiden ermordeten Freundinnen sagen würde.
Neil hatte seine Kamera in einem der alten Klassenzimmer aufgebaut. Er hatte vor, Susan an einem der Schülerpulte sitzend zu filmen, die alte Tafel im Hintergrund. Und er war bereit. Beim Blick auf die Uhr stellte er fest, dass es noch eine Dreiviertelstunde dauern würde, bis sie hier wäre. Sie hatte gesagt, dass sie direkt von der Arbeit käme.
Genug Zeit, um sich noch etwas zu essen zu holen. Am U-Bahnhof war ein Curry-Imbiss, der ganz passabel ausgesehen hatte. Dort konnte er sich ein schnelles Gericht zum Mitnehmen holen, und dann würde er Kate anrufen. Er machte sich Sorgen um sie. Seit der wirren Nachricht, sie führe jetzt nach Cambridge, die sie ihm mittags auf die Mailbox gesprochen hatte, hatte er nichts mehr von ihr gehört. Er hatte keine Ahnung, was sie in Cambridge suchte oder wen sie dort treffen wollte, und anscheinend hatte sie gleich nach der Nachricht ihr Handy abgeschaltet. Jedenfalls hatte Neil es seitdem mehrmals probiert und Kate nicht erreicht. Jetzt versuchte er es erneut. Immer noch keine Antwort. Er schickte ihr eine SMS und schlug ihr vor, zu ihm in die Schule zu kommen. Dann lief er los, um sich sein Essen zu holen.
Kate erschrak, als ihr Handy piepte. Sie war also wieder im Signalbereich. Es war eine Nachricht von Neil. »Arbeite länger. Drehe an der LJG. Komm dorthin. Xxx.« Unweigerlich musste sie lächeln. Der Gute! Er bemühte sich wahrlich, ihr Interesse an seinem Dokumentarfilm zu schüren - oder an irgendetwas anderem als dem dämlichen Nachmittagsfernsehen.
Der Zug fuhr in den Kings-Cross-Bahnhof ein, und Kate fällte eine spontane Entscheidung. Sie wollte mit Neil reden, von Angesicht zu Angesicht, und ihm von den vagen Gedanken erzählen, die ihr gekommen waren - über Hattie, Serena und Susan.
Also rannte sie zur U-Bahn und quetschte sich in die überfüllte Victoria Line in Richtung Seven Sisters. Nachdem sie in den Nahverkehrszug umgestiegen war, schaffte sie es sogar, zwischen den zahlreichen Pendlern einen halbwegs erträglichen Stehplatz zu ergattern. Während sie sich an der Rücklehne einer Sitzbank festhielt, polterte die Bahn langsam gen Nordosten.
Als Kate an dem winzigen Bahnhof nahe der Lady Jane Grey ausstieg, erschien ihr alles beklemmend vertraut. Die Gleise waren hier über die Hauptstraße geführt, sodass der Bahnhof erhöht lag und kaum größer als eine Bushaltestelle war. Hier oben war es bei jedem Wetter öde und kalt gewesen. Kate dachte an all die Stunden, die sie hier mit Warten verbracht hatte, wobei ihre Knie vor Kälte fleckig wurden. Früher hatte sie immer am hintersten Ende der Plattform gestanden, so weit wie möglich entfernt von den Bänken mit den anderen Mädchen. Manchmal hatte sie auf dem Weg zum Bahnhof sogar absichtlich getrödelt. Sie war einen Umweg durch das endlose Gewirr von Vorortstraßen gegangen und hatte alles getan, um sich zu verspäten und einen Zug nehmen zu können, in dem die anderen nicht saßen. So viel Angst und Elend, und dennoch war sie selbst keinen Deut besser gewesen. Wie konnte sie nur?
Neils Curry dauerte länger als erwartet. Wenn er nicht gleich loslief, würde er sich bei seinem Treffen mit Susan Sullivan verspäten. Wie blöd von ihm! Er hätte es gar nicht erst riskieren dürfen, denn dieses Interview wollte er auf keinen Fall vermasseln. Er rief Susan auf dem Handy an, die recht munter klang, als sie sich meldete. Sie sagte ihm, das mache überhaupt nichts, sie sei fast bei der Schule und würde eben auf ihn warten. Kein Problem.
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