Irgendwann Holt Es Dich Ein
dass Susan direkt am Dachrand stand.
Susan fuhr fort: »Das hier war dein Lieblingsplatz, nicht wahr? Wir standen früher immer unten auf dem Schulhof und haben zu dir raufgeguckt. Ich glaube, du hast es nie gemerkt. Wir haben Wetten abgeschlossen, ob du springst oder nicht, und, falls ja, ob du dabei stirbst. Ich sollte dich wohl bewundern, weil du dich nicht feige aus der Affäre gezogen hast. Wir sind uns womöglich ähnlicher, als ich früher je gedacht hätte. Nicht wie Hattie. Sie ist gesprungen. Feige.«
»Hattie wurde ermordet.« Kate merkte, dass ihre Stimme wie ein Krächzen klang. Sie trat einen Schritt auf Susan zu, behielt ihre Finger allerdings an der Mauer nahe der Tür.
»Glaubst du das wirklich?«
Kate meinte ein Lächeln in Susans Gesicht zu erkennen.
»Denkst du allen Ernstes, dieser lächerliche kleine Mann hat sie vor die U-Bahn geschubst?« Susan lachte, was in der Abendluft klirrend klang. »Nein, Hattie hat sich umgebracht, und das wissen wir beide.« Sie legte eine Pause ein, und als sie weitersprach, war ihr Tonfall anders, hochnäsig - wie er zu einer eleganten Gartenparty gepasst hätte. »Dein Mann hat mir erzählt, dass du heute in Cambridge warst. Hat es dir Spaß gemacht, die Geister der Vergangenheit zu besuchen?«
Kate spürte den Mörtel zwischen den Mauersteinen, der ihr Halt zu geben schien. Sie durfte die Mauer unter keinen Umständen loslassen. »Heather«, sagte sie. »Das Mädchen, das gestorben ist. Was genau ist da passiert?«
»Ach, warst du denn nicht dabei?« Jetzt lächelte Susan eindeutig, denn Kate konnte ihre weißen Zähne in der Dunkelheit blitzen sehen. »Tja, weißt du, ich habe mir das Hirn zermartert, ob du da warst oder nicht, als es geschah. Aber, um ehrlich zu sein, erschien es mir eigentlich nicht von Belang, ob du dabei warst.«
Kate nahm all ihren Mut zusammen, um an dieser Stelle nachzuhaken. »Was ist mit Heather passiert?«
Sie erntete ein abfälliges Lachen. »Ach, wir haben ihr bloß gesagt, dass sie sich bestimmt nicht traut, oben auf der Mauer zu balancieren. Vielleicht hat eine von uns auch ein lautes Geräusch gemacht, sie erschreckt, und da ist sie eben runtergestürzt.«
»Du hast sie gestoßen«, sagte Kate, die sich auf einmal sicher war. Sie meinte es sogar vor sich zu sehen; vielleicht handelte es sich um eine echte Erinnerung.
Aber Susan lächelte immer noch. Wieder sah Kate ihre Zähne weiß in der Dunkelheit leuchten, und sie konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob Susan sie kosmetisch behandeln ließ. Ihre Zähne kamen Kate zu groß und zu weiß vor.
»Kann sein, dass wir einfach sehen wollten, ob sie oben treibt«, sagte Susan lachend. »Nein, Kate, glaub mir, das war ein Unfall.«
»Und warum habt ihr dann nichts gesagt?«
»Ach, komm schon! Die hätten uns wegen des Trinkens und der Drogen ausgequetscht. Am Ende wären wir noch von der Lady Jane verwiesen worden. Und das war nun wirklich nicht das, was wir uns auf unseren Bewerbungsbögen für die Uni wünschten.«
»Du, Hattie und Serena, ihr habt das alles die ganzen Jahre über für euch behalten?«
»Genau wie du«, entgegnete Susan, die auf einmal unnachgiebig und eisig klang.
»Ich wusste von nichts.«
»Ach nein? Oder hattest du alles praktischerweise vergessen?«
Kates Augen hatten sich nun endlich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie sah Susan recht klar. Sie trug einen maßgeschneiderten dunkelgrünen Regenmantel, denselben, den sie auch bei Hatties Trauerfeier getragen hatte, sowie ein Paar glänzender Lederstiefel mit hohen Stahlabsätzen. In dieser Aufmachung stand sie auf dem Dach, vollkommen angstfrei, die Hände in die Hüften gestemmt und ein keckes Lächeln auf den Lippen. In dem Moment war Kate sich sicher. »Du hast Serena umgebracht.«
Susan lächelte noch immer gänzlich ungerührt.
Eine halbe Ewigkeit hatte es gedauert, bis Neils Rogan Josh fertig war. Mit einem breiten Grinsen reichte ihm der Kellner eine braune Papiertüte. Das Poppadum war umsonst, und die Tüte roch nach warmen, würzigen Wohltaten. Neil sah auf sein Handy: Keine Nachricht von Kate. Durch die kalten, windgepeitschten Straßen lief er zurück zur Lady Jane Grey, vorbei an dem Wohnblock, in dem Atkins gelebt hatte und gestorben war.
Für Kate fügten sich jetzt endlich alle Puzzleteile zusammen. »Mr. Atkins hatte gar nichts mit ihrem Tod zu tun, nicht wahr? Weder bei Hattie noch bei Serena. Es war reiner Zufall. Er hatte von Hattie und Serena gelesen und
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