Irgendwann Holt Es Dich Ein
angefangen, ihnen nachzustellen wie all den anderen früheren Schülerinnen. Nur dass es Hattie unnatürlich große Angst eingejagt hat, und das hing mit dem zusammen, was mit Heather geschehen ist.«
Kate begriff, dass Atkins' anonyme Briefe Hattie in den Wahnsinn getrieben hatten, weil sie eine Verbindung zu ihrer Mitschuld an Heathers Tod hergestellt hatten. In ihrem Rausch hatte sie geglaubt, sie würde für das bestraft, was sie mit Heather getan hatte. »Hattie und Serena haben beide Angst gekriegt, stimmt's? Sie haben festgestellt, dass sie beide anonym bedrängt wurden. Sie müssen miteinander geredet und herausgefunden haben, dass sie beide solche merkwürdigen Briefe erhielten. Und als Hattie dann so grausam ums Leben kam, ist Serena in Panik geraten. Sie wollte wissen, was Hattie vor ihrem Tod zu mir gesagt hat. Deshalb hat sie sich so gefürchtet.«
»Die gute Serena hat einfach zu gern geredet. Sie hätte sich gewiss bestens mit deinem Mann verstanden, denn sie mochte es, alles und jedes bis ins Letzte zu zerreden«, sagte Susan. »Das war wirklich ihre einzige Schwäche. Na ja, das und ihr Gewichtsproblem. Sie liebte es zu reden. Glaub mir, sie war der letzte Mensch, dem man ein Geheimnis anvertraut hätte. Ich sah, wie sie dich bei Hatties Trauerfeier ansprach, und mir war klar, was sie dir erzählen wollte. Also bin ich am nächsten Tag bei ihr vorbeigefahren. Sie wollte geradezu verzweifelt alles ausplaudern. Bei meiner Ankunft wartete sie auf dich, um von dir zu hören, wie viel du weißt. Stell dir vor, sie wollte dir alles erzählen! Sie meinte: ›Kathryn wird wissen, was wir machen sollen.‹ Dann hat sie von deinem Mann geredet, dass er Geschichten recherchiert. Ich glaube, sie hat sich vorgestellt, dass er rausfinden könnte, wer sie verfolgte. Eigentlich ist es wirklich witzig, wenn man bedenkt, dass er es am Ende tatsächlich herausgefunden hat. Aber das tut nichts zur Sache. Entscheidend ist, dass sie euch beiden erzählen wollte, was mit Heather passiert ist. Und nicht bloß das, sie hatte sogar vor, mit der Sache an die Öffentlichkeit zu gehen.«
Die Worte »die Öffentlichkeit« sprach sie mit solchem Ekel aus, als wäre es das Schlimmste überhaupt.
»Und da musste ich sie erwürgen.«
Susan blickte von Kate weg hinunter zum Schulhof. »Ich wünschte, sie hätten nicht entdeckt, dass es kein Selbstmord war. Alles hätte so sauber und ordentlich aussehen können.«
Plötzlich machte Susan einen Schritt auf Kate zu. Sie streckte die Hand aus, und ehe Kate klar wurde, was geschah, schlang sich Susans Arm um ihre Taille und riss sie zur Dachkante. »So sauber und ordentlich, dass ein weiterer Selbstmord niemanden mehr wundert.«
Kate bewegte sich schnell. Sie schaffte es, mit einer Hand Susans Haar zu packen und ihr den rechten Ellbogen in den Hals zu rammen. Susan gab einen erstickten Laut von sich und lockerte kurzzeitig den Griff um Kate, klammerte sich jedoch sofort an deren Mantel fest. Kate bekam den Gürtel von Susans Trenchcoat zu fassen und trat sie mit dem rechten Knie. Susan krümmte sich vor Schmerz. Wir beiden kämpfen um unser Leben, ging es Kate durch den Kopf. Die große, athletische Susan, der Lacrosse-Star der Schule, gegen die drahtige, durchtrainierte Kate. Sie hat nicht damit gerechnet, dass ich so stark bin, dachte Kate verbissen, als sie Susan von sich stieß. Der Metallabsatz ihres Stiefels verfing sich im Gitter an der Dachkante, und Susan knickte der Knöchel um. Die große Frau rutschte - und fiel. Sie verlor den Halt, sodass ihre Beine bereits über den Rand hingen.
Es war reiner Instinkt, ja, es musste Instinkt sein, denn Kate wollte Susan gar nicht das Leben retten. Aber irgendetwas brachte sie dazu, nach Susans Handgelenken zu greifen und sie festzuhalten. Sekunden vergingen, bis Susans beide Hände Kates Unterarme umfassten. Es mutete wahrlich absurd an, dass sie beide sich aneinander festhielten. Kate gelang es, sich mit dem Po hinter die niedrige Kante zwischen Dachschindeln und Mauerwerk zu hocken, die Beine gespreizt und die Füße fest gegen die kleine Erhebung gestemmt. So versuchte sie, das Gleichgewicht zu halten, während sie gegen Susans Gewicht nach hinten zog. Sie hatte das Gefühl, ihr würden die Arme ausgekugelt, und unweigerlich fragte sie sich, wie lange sie noch durchhalten konnte. Susan bemühte sich, mit den Füßen Halt an der Mauer zu finden, drehte und wand sich, was den Schmerz in Kates Armen fast unerträglich machte.
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