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Irgendwann ist Schluss

Irgendwann ist Schluss

Titel: Irgendwann ist Schluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Orths
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Eingangsbereich zu gelangen, und wenn sie es doch schafften, würden meine Treppentüren sie aufhalten, und wenn sie die Treppentüren sprengen und in die obere Etage dringen würden, gäbe es noch jede Menge Waffen, die im Überwachungsraum bereitlagen. Wischnewski, Kuttner und Gonzales, sie würden rasch merken, dass es zwecklos war, sie würden einsehen, dass ich dieses Haus hier nie wieder verlassen werde. Nie wieder: Diese Worte klangen für mich, als ich sie zum ersten Mal aussprach – und ich redete am ersten Tag das eine oder andere Mal mit mir selbst –, nicht erdrückend, sondern verheißungsvoll.
    Zunächst saß ich stundenlang einfach nur vor den Monitoren und starrte sie abwechselnd an. Ich wartete darauf, dass etwas geschah. Ich glaubte fest daran: Wischnewski, Kuttner und Gonzales würden mir rasch zeigen wollen, dass sie noch da waren. Deswegen kontrollierte ich vornehmlich die Monitore für die Außenkameras, aber ich sah nichts. Alles blieb ruhig. Nur einmal näherte sich ein Reh der Mauer. Ich erschrak zuerst über die Bewegung, dann sah ich dem Tier zu, wie es vorsichtig an etwas zupfte und in alle Richtungen äugte, während es äste. Ich wartete. Ich streifte eine Weile ziellos im Netz der Welt, bis ich müde wurde. Ein letztes Mal kontrollierte ich die Monitore. Alles war ruhig. Friedvolle Waldstimmung. Doch gerade als ich mich von den Monitoren abwenden wollte, tauchte Gonzales auf. Er stellte sich vor die Kamera am Tor. Obwohl ich mit seinem Erscheinen gerechnet hatte, zuckte ich zusammen. Gonzales machte eine säbelnde Geste und grinste dabei. Seine Lippen formten ein »Wir kriegen dich!« Dann drehte er sich um und verschwand im Wald.
    Ich soll wissen, dass meine Feinde da sind. Immer. Ich soll wissen, dass sie mich nicht rauslassen werden. Dass es nie aufhören wird. Ich weiß, was sie denken. Sie denken, dass ein Mensch, der abgeschnitten von allem und jedem lebt, einfach wahnsinnig werden muss. Dabei verkennen sie, dass ich mir mein Exil hier selbst gewählt habe. Sie wissen nicht, dass ich mit niemandem so gut auskomme wie mit mir selbst. Und der Computer bringt mir alles ins Haus: Filme, Informationen, Neuigkeiten, Bücher, Theaterstücke, alles, was ich will. Ich muss nicht hinaus in die Welt, die Welt kommt zu mir. Mein Interesse ist wie ein Schwamm. Es unterscheidet nicht nach Farbe des Wassers, das es aufsaugt, oder ob es schmutzig ist oder sauber. Ich schaue Filme an, von Henry Ipswich, einem Filmemacher, den niemand kennt, er hat seinen Film ins Netz gestellt. Eine Digitalkamera wackelt sich durch die Szenen, eine Wiese, auf der ein Schmetterling versucht zu fliehen, verfolgt von der Kamera, die ihn nicht einholen kann, die ihn verliert, die haften bleibt an einem Gesicht, dem einer Frau. Später höre ich Musikstücke an, die Gruppe kenne ich nicht, es sind viele Trommeln im Spiel, Gesang fehlt. Ich lese am Bildschirm einen Bericht über Mahatma Gandhi, sein Leben, seine im Gefängnis diktierte Autobiographie, ich lese diesen Satz, den er gesagt hat und über den ich lange nachdenke: Es sei leicht, ins Gefängnis zu kommen, wenn man ein Verbrechen begangen habe, aber schwierig, wenn man unschuldig sei. Ich weiß, wie heiß es gerade in Burkina Faso ist, ich stelle mir die Burkinabé vor, wie sie unter der Sonnenlast stöhnen, wie sie versuchen, Schatten zu finden. Während ich im Netz bin, vertraue ich die Kontrollmonitore meinen Augenwinkeln an. Sie ruhen reglos wie ein sechsundvierzigfacher See. Sobald es eine Bewegung gibt, ruckt mein Hals, und ich sehe einen Vogel, ein Waldtier, eine Kastanie fällt, oder ein kräftiger Windstoß fächelt Blätter.
    Ich bin jetzt seit etwa vier Wochen hier. Tage gleichen sich. Um fünf Uhr nachmittags, wenn der Hunger sich kaum noch zügeln lässt, fahre ich den Netz-Computer herunter – die Monitore nie, die Monitore laufen Tag und Nacht. Den Kopf voller neuer Informationen, bereite ich mir in der Küche ein Essen zu. Das alles so schnell wie möglich. Ich nehme das Essen mit ins Lebzimmer und muss mir die Augen reiben. Das stete Starren tut ihnen nicht gut, sie brauchen Erholung, ich muss ihnen Ruhe gönnen, sie sind mein einziges Kapital, sie dürfen auf keinen Fall versagen, nicht auszudenken, was geschähe, verlöre ich das Augenlicht, blind hätte ich auszuharren, ohne jegliche Chance, Gonzales und die anderen in Schach zu halten. Sie wissen inzwischen, dass ich bewaffnet bin. Einmal hat einer in den letzten Tagen versucht, über

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