Irgendwann ist Schluss
sich diese Veränderung eingestellt. Immer seltener starre ich ins Netz, immer öfter in die Kontrollmonitore. Mein Blick wandert langsam über die Außenmonitore, und der Frieden, die Stille, das Nichtgeschehen ist eine ungeheure Besänftigung. Es ist die reine Gegenwart, die ich aufsauge. Das völlige Fehlen von Bewegung, von Veränderung. Ich falle in die Zeitlosigkeit wie in ein Loch. Ich vergesse mich und alles um mich her. Ich sitze ganz in meinen Augen. Der Körper ist nur noch Anhängsel, er spielt keine Rolle mehr. Durch die Augen dringt Nichts in meinen Geist und überschwemmt ihn. Diese Ruhe, diese Verlorenheit, diese absolute Abwesenheit birgt einen Frieden, den ich nicht für möglich gehalten hätte. Irgendwann habe ich den Netzmonitor einfach ausgelassen. Mir reicht der Blick auf die Mauer, auf den Wald, auf die Wände, den Rasen, den Garten, auf Büsche, Bäume, Wege. Schon die Rehe, die Eichhörnchen, die Vögel beginnen mich zu stören. Am liebsten sind mir die Standbilder. Die Mauerbilder. Die Steinbilder. Bilder, auf denen sich nichts regt. Ich sitze immer länger im Überwachungsraum. Mein Hungergefühl nimmt ab. Ich wünschte mir, ich könnte ständig im Überwachungsraum sitzen und auf meine Monitore starren, ich wünschte mir, ich wäre selber eine Kamera, die Tag und Nacht läuft und alles im Auge behält.
Wenn ich dort sitze und schaue, tauchen Erinnerungen in mir auf wie große Wasserblasen. Ich sehe die Hände meiner Mutter, die aneinanderreiben, es ist ihr Ich-wasche-meine-Hände-in-Unschuld-Reiben, sie tut es immer, nachdem sie die Hände eingecremt oder gewaschen und abgetrocknet hat, sie tut es, nachdem sie ein Stück Kuchen gegessen und mit dem Zeigefinger einen Krümel aufgepickt und auf der Zunge abgeladen hat, sie tut es, nachdem sie irgendwas angefasst hat, wovor sie sich ekelt. Ich sehe meinen Vater am Telefon und schaue ihm zu, wie seine Lippen die Muschel streifen und einen feuchten Abdruck hinterlassen. Ich sehe mich, wie ich meinen Stoffbären aufschneide und die Gedärme aus Holzwolle entferne und den Bauch mit Kieselsteinen ausstopfe und den Bären in die Ecke setze und mir vorstelle, welche Bauchschmerzen er jetzt wohl hat. Ich sehe mich, wie ich eines Tages, in voller Montur, es ist Herbst und kalt, auf unseren Gartenteich zulaufe, ohne meine Schritte zu verlangsamen, und ich sehe mich, wie ich den ersten Schritt in den Teich tue und weiter hineinlaufe, er ist nicht tief, und ich stehe bald schon bis zur Hüfte in Algen, aber ich bin entsetzt, weil ich, als ich lief, gedacht hatte, das Wasser trägt mich, wenn ich nur fest genug daran glaube. Ich sehe eine Frau, sie ist zweiundzwanzig, eine neue Angestellte, ich spreche mit ihr, während meine Eltern verreist sind, ich bin allein im Haus, nur ich und das Personal. Die Angestellte betritt mein Zimmer, sie schwebt herein und lächelt mich an, ich weiß nicht, was sie an mir findet, ich bin zwei Jahre jünger als sie. Wir liegen auf dem Boden, und es ist eine Bewegung, die ich mache, eine einzige Bewegung, die alles verändert, die Welt um mich her wird nie wieder sein wie zuvor, ich strecke meinen Arm aus, das ist alles, was ich tue, ich strecke meinen Arm aus, in Richtung ihres Gesichts, ich will nur eine Fliege verscheuchen, die sich auf ihr Haar gesetzt hat, doch sie stöhnt auf, als meine Hand sich ihr nähert, und meine Hand berührt ihr Haar, ich weiß nicht, weshalb, die Fliege ist längst verschwunden, die Frau schließt die Augen, es ist nur eine Sekunde, in der sie nichts tut, nur die Hand in ihrem Haar spürt, doch dann öffnet sie die Augen und wälzt sich zu mir und zieht mich aus. Ich liege still dort, ich tue nichts, ich sehe nur zu, wie sie etwas aus ihrer Tasche fummelt, ganz schnell geht das, und sie stülpt mir etwas über, ich kann ihr nichts entgegensetzen, kann nur noch auf ihre Schreie achten, es ist kein Stöhnen, es ist ein Schreien, viel zu laut, und ich denke an das Personal, an Marc Antonius, ich hoffe, dass sie die Schreie nicht hören, ich kann ihr nicht die Hand auf den Mund legen, ich muss warten, bis es vorbei ist.
Es ist merkwürdig, ich bin heute Morgen aufgewacht, und es ist mir nicht gelungen, mich an meine Erinnerungen zu erinnern. Ich weiß, dass ich gestern Erinnerungen aufgeschrieben habe, aber ich weiß nicht mehr, welche. Ich bin zunächst erschrocken. Ohne Frühstück habe ich meine Aufzeichnungen von gestern gelesen. Ich stehe wie vor einem Rätsel. Sind das meine Erinnerungen?
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