Irgendwann werden wir uns alles erzählen
probiert habe, klettere ich aus dem geöffneten Fenster hinaus. Meine Mutter tut es mir nach, noch immer schweigend.
Und dann sitzen wir da, vor einem auf dem Dach liegenden himmelblauen Trabant, am Straßenrand, und zittern. Meine Mutter hält in den Händen den Schlüssel, den sie aus unerfindlichen Gründen aus dem Schloss gezogen hat. Ja, das hat sie getan. Sie sagt nichts, ich sage nichts. Ich schäme mich für sie. Ich weiß nicht, wie lange wir schon sitzen, sicher sind es nur Minuten gewesen, mir aber kommt es vor wie eine Ewigkeit. Da höre ich die Hunde hinter uns. Ihr Kläffen holt mich zurück in die Zeit, aus der uns der Unfall hinausgeworfen hat. Es ist der Henner, er kommt aus dem Wald. Über die Schulter hat er einen Sack geworfen, und ich frage mich sofort, was er in diesem Sack versteckt. Ich bin mir sicher, er versteckt etwas. Er sieht uns dort sitzen, kommt näher, schaut sich das Auto an, schüttelt den Kopf und sagt: »Den drehen wir wieder um.« Mein Kopf ist nun ganz leer. Ich sehe den Henner, wie er den Sack abstellt, den ich nicht mehr aus den Augen lasse, wie er mit meiner Mutter spricht, sie den Kopf schüttelt, wie sie aufsteht und die beiden das Auto anheben und mit einem einzigen Ruck, dessen Kraft, da habe ich keine Zweifel, nur die vom Henner ist, mit einem einzigen Ruck also, das Auto zurück auf seine vier Räder stellen. Dann holt meine Mutter den Koffer heraus, stellt ihn mir vor die Füße, einfach vor die Füße, ohne mich anzusehen, steigt ein und fährt davon.
Später habe ich mir manchmal gesagt, dass alles, was geschehen ist, an dem Schock gelegen haben muss. Einiges wohl, aber nicht alles.
Ich nehme den Koffer und laufe los. Der Henner wirft sich den Sack wieder über die Schulter, macht einige große Schritte, holt mich ein, nimmt mir den Koffer aus der Hand und sagt: »Komm!« Sein Haus liegt nicht weit entfernt. Wir biegen rechts in den Weg ein, gehen schweigend und betreten den Hof. Die Doggen springen an mir hoch, ich lasse sie springen; ich beobachte den Sack, doch nichts regt sich darin. Dann folge ich ihm ins Haus, in die Küche. Er stellt den Koffer auf einen Stuhl, den Sack wirft er neben den Ofen. Holz, denke ich, es ist nur Holz darin, doch warum muss er heizen? Es ist Sommer. Er schiebt mich zum Tisch, setzt mich auf einen Stuhl mit Armlehnen, schüttelt den Kopf und sagt: »Ihr macht Geschichten.« Vor mir steht jetzt ein Glas mit einer durchsichtigen Flüssigkeit. Ich nehme es, trinke, es ist Wodka; der Henner nimmt mir das Tuch von den Schultern. Die Hunde kratzen an der Tür. Er hat sie ausgesperrt. Er will keine Zeugen, denke ich, sie könnten es in die Welt hinausbellen. Der Gedanke gefällt mir. Fast muss ich lachen. Es ist doch kein Holz in dem Sack, etwas hat sich darin bewegt. Er legt von hinten seine Hände um meinen Hals. Jetzt sterbe ich. Wenn ich jetzt nicht sterbe, werde ich nie mehr Angst haben. Die Hunde toben, ich trinke weiter. Er lässt mich wieder los, und ich trinke das Glas aus. Jetzt sehe ich meine nackten Füße. Ich habe keine Schuhe mehr an, der Henner hält sie in der Hand und wirft sie achtlos in die Ecke neben den Sack. Etwas bewegt sich darin, ich irre mich nicht. »Jetzt hab ich dich gefangen«, sagt er scherzend, »und in meine Höhle geschleppt.« Dann lacht er, und es kommt mir vor wie Donnergrollen.
Ein Hase, denke ich, in dem Sack ist ein Hase, er hat Fallen aufgestellt und einen Hasen gefangen. Für die Doggen, diese Bestien.
Wie er mich in das andere Zimmer gebracht hat, weiß ich nicht. Vielleicht bin ich einfach mitgegangen. Ein Fenster steht offen, eine vergilbte Gardine weht im Abendwind, zwischen den Lindenbäumen sehe ich den Giebel des Brendel-Hofs, das Licht hinter dem Fenster. Dort wartet Johannes auf mich. Mein Kleid hat einen seitlichen Reißverschluss, meine Fingerspitzen berühren den oberen Fensterrahmen, Farbe bröckelt in kleinen Stücken herab, und die Hände vom Henner sind rau. Ich steige schlafwandlerisch aus dem heruntergezogenen Höschen und dem Kleid, das nun am Boden meine Füße bedeckt. Sein Atem in meinem Nacken geht ruhig und gleichmäßig, mein Herz aber, das glaube ich fest, wird nun stehen bleiben. Es setzt kurz aus und macht dann einen Überschlag, ein Zucken durchfährt meinen Körper, ein vollkommen unkontrolliertes Zucken, mehrmals hintereinander. Da hält er mich plötzlich fest, bis es aufhört. Unter meinen Füßen fühle ich kleine Steine; die Hunde sind verstummt. Seine Hände
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