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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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amputiert hatte. Da wurde es zunehmend schwerer für die Familie. Das Vermögen der Mutter reichte noch einige Jahre, aber Anfang der Dreißiger war alles aufgebraucht. Geheiratet hat sie nicht mehr, die Mutter von der Helene.
    Helene aber war auf eine gute Schule gegangen, hatte Bildung, Umgangsformen, nur kein Geld. Sie war achtzehn, als sie den Juristen Ernst Bechert traf, der sie trotz ihrer Mittellosigkeit auf der Stelle heiratete. Ernst machte Karriere und wurde Mitglied in der NSDAP. Kinder bekamen sie keine. 1940 wurde er eingezogen und kehrte im Februar 1945 mit einer schweren Kopfverletzung und einem fehlenden Auge zurück. Aber als die Russen kamen, hat er sich in der Küche der gemeinsamen Wohnung erhängt. Helene kam nicht schnell genug davon. Die Straßen waren schon voller russischer Soldaten, und ihre Schönheit war auch unter schmutzigen Kopftüchern kaum zu verbergen gewesen. Im Keller des Hauses haben sie sie gekriegt. Wie viele es waren, das wusste sie nicht, Dutzende jedenfalls. Einer hatte sie so stark verletzt, dass selbst die anderen, die schon gewartet hatten, die halb tote Frau nicht mehr haben wollten. Sie muss wie ein abgestochenes Tier geblutet haben. Wochenlang ging das so. Das hat sie ihrem Mann auf dessen Sterbebett gebeichtet, und erst dann hat er alles verstehen können.
    Im Sommer 1945 schleppte sie ihren zerschundenen Körper aus der Stadt. Wie sie nach Thüringen und in unser Dorf gekommen ist, weiß niemand so genau. Auf dem Henner-Hof gab man ihr Arbeit und ein kleines Zimmer, und ein Jahr später hat sie der jüngste Sohn, der Franz, geheiratet, der trotz einiger erfrorener Zehen und einer Menge Granatsplitter im Körper den Krieg überlebt hatte. Er war neunundzwanzig. Sie einunddreißig. Die beiden anderen Söhne des Hofs waren im Krieg gefallen.
    Schließlich, im Jahre 1950, kam dann der Henner auf die Welt. Niemand hatte mehr damit gerechnet, dass sie noch ein Kind bekommen wird. Während der Schwangerschaft besorgte sie sich Bücher und verbrachte zum Leidwesen der Henner-Familie ganze Tage mit Lesen. Später ist sie dann ganz in den Büchern und dem Schnaps verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
    Der Henner legt jetzt seufzend den Kopf in meinen Schoß, und ich bedecke ihn mit meinem Kleid. Dann weint er. Ja, das tut er, und seine Tränen benetzen meine nackten Beine, die noch immer zittern. So habe ich ihn nur einmal erlebt und dann nie wieder. Die Liebe hat ihn weich gemacht.

Kapitel 8
    DAHEIM AUF DEM Brendel-Hof empfängt mich schon die Marianne. »Ihr wart aber lang unterwegs«, sagt sie. Als ich an ihr vorbeigehe, kommt sie mir plötzlich sehr nahe und riecht an mir. Das werde ich nie vergessen: Wie ihre Nase mich beinahe berührt, wie sie den Kopf hebt und mich ansieht, wie ich den Atem anhalte und bereue, den Geruch vom Henner nicht abgewaschen zu haben, und wie sie plötzlich lächelt und sagt: »Du riechst ja wie ein ganzer Pferdestall. Geh dich halt vor dem Abendbrot schnell duschen.« Ich nicke stumm. Diesmal bin ich davongekommen.
    Hartmut hat schon ordentlich Farbe bekommen. Er ist früh mit dem Siegfried aufgestanden und hat ihm bei der Arbeit geholfen. Seine Wangen sind gerötet, und er schlingt das Essen gierig hinein. Gisela schaut immer mal zu ihm hinüber, sagt aber nichts. Die Kinder necken den Lukas und reden ununterbrochen. Ein solches Geschnatter am Tisch sind wir alle nicht gewohnt. Der Alfred schaut mürrisch umher; bei mir bleibt sein Blick hängen. Ich schaue ins Weinglas und schwitze.
    Der Hartmut will plötzlich wissen, ob wir unsere Stasiakten einsehen werden, wenn es so weit ist und wenn sie nicht alle vernichtet sind bis dahin. Da lacht der Siegfried und meint, das bräuchte er nicht, er wisse schon, was drin stünde und auch, wer die Informationen geliefert hätte, und dann sagt er an mich gewandt: »Die Einzige hier am Tisch, die eine lupenreine Akte hat, wenn sie überhaupt schon eine hatte, ist wohl die Maria.« Dafür würde ich ihm am liebsten das Essen ins Gesicht werfen. Schließlich war ich bei der ersten Demonstration in P. dabei und habe lauthals mitgeschrien: »Wir sind das Volk!«, obwohl ich zugeben muss, dass wir nicht nur wegen der Demonstration dort gewesen sind; eigentlich wollten wir später zum Softeisladen gehen, meine Freundin Katja und ich. Doch Siegfried hört nicht auf mit Sticheln. »Die Maria«, sagt er mit gewichtiger Miene und verschränkten Armen, »war in der Pionierrepublik. Eins A für die Kaderakte, sag

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