Irgendwann werden wir uns alles erzählen
nach unten; er sagt: »Leg dich jetzt ein bisschen hin. Ich komme bald wieder; dann mache ich dir was zu essen.«
Doch bevor er geht, nimmt er mich lange in den Arm, sehr fest, und ich atme den scharfen Geruch der Lüge.
Es ist die letzte Ferienwoche, es sind die letzten freien Tage dieses Sommers.
Ich lege mich auf das Bett. Auf dem Boden liegt noch immer die Schürze, die ich zum Kochen getragen habe. Das Fenster ist geschlossen und so schmutzig, dass man kaum hindurchsehen kann. Die Bücherregale sind von Staub überzogen, und der Teppich ist voller Flecken. Zum ersten Mal bin ich hier allein. Mir war nicht aufgefallen, wie muffig es riecht, wie sich all die alten Dinge dem Geruch der neuen Zeit entgegenstellen. Ich kann kaum atmen hier drin. Unten in der Küche hole ich mir Eimer und Lappen und beginne zu putzen. Ich öffne weit die Fenster und versuche mir vorzustellen, wie sie hier gesessen hat, die Mutter vom Henner, mit einem Buch in der Hand. Man sieht auf den Hof hinaus, der rundherum geschlossen ist. Ganz allein bin ich hier. Der gemauerte Torbogen steht dort wie der Eingang zu einer Festung. Es ist schützend und bedrohlich zugleich, hier beim Henner.
Die Hunde liegen im Schatten neben dem Trog mit dem Futter. Sicher hat der Henner ihnen aufgetragen, mich zu bewachen. Ich bilde mir ein, sie sehen hier herauf. Ich bin froh, dass er mich geholt hat. So froh.
Ich putze die Fenster, staube die Regale ab, wische den Boden und schüttele den Teppich aus. Ich hänge ihn einfach aus dem Fenster und klopfe mit den Händen drauf. Und dann höre ich ihn kommen. Sein Wagen brummt den Weg entlang, er hält; ich höre die Tür zufallen, und er kommt zum Tor herein. Er kommt nach Hause, und ich bin schon da. Ich rufe und winke ihm von oben, und er hält die Hand gegen die Sonne und lächelt.
»Komm runter!«, ruft er. »Es gibt etwas zu essen, ich habe es vom Lindenwirt geholt.«
Als wir am Tisch sitzen, sieht er mich lange und prüfend an. Dann sagt er: »Was hast du dir denn nur gedacht, Maria? Nur weil ich drei Tage weg war, denkst du gleich, alles ist vorbei? Mein Gott! Ich hatte einfach Dinge zu erledigen, wichtige Dinge, in der Stadt. Geldangelegenheiten, einen Haufen Liegengebliebenes.« Er sieht mich noch immer an. Ich schäme mich. Meine Hände liegen gefaltet in meinem Schoß; ich sehe zum Fenster hinaus.
»Als ich zurückkam, habe ich deinen Brief gefunden«, fährt er fort. »Ich bin am nächsten Morgen also rüber zur Marianne und habe alles Mögliche gekauft und dann gewartet auf dich. Aber du bist nicht gekommen. Da bin ich also wieder rüber zum Brendel-Hof und habe die Sachen selbst geholt, und da habe ich dann erfahren, dass du krank bist und ganz abgemagert. Keiner wusste, was eigentlich mit dir los ist, der Lindenwirt hat sich eine neue Bedienung suchen müssen. Am nächsten Tag bin ich wieder hin. Da hat die Marianne gesagt, du wärst gar nicht da, du hättest zur Mutter gewollt … Tagelang hab ich gewartet, dass du wiederkommst. Das alles, weil es einmal nicht nach deiner Vorstellung ging? – Hast du wirklich gedacht, ich will dich nicht mehr?« Er ist zornig, das sehe ich an seiner Stirn und in den Augen.
Ich antworte: »Ja. Das habe ich gedacht. Du hast mir ja nicht Bescheid gesagt; ich wusste nicht, dass du wegfährst. Ich dachte, du hättest genug von mir. Ich habe geglaubt, sterben zu müssen, Henner, ich meine wirklich sterben.« Ich will nicht weinen und höre auf zu sprechen. Schlucke und schlucke.
Das Essen haben wir nicht angerührt, und er sagt väterlich streng: »Iss jetzt!«, und nach einer Weile: »So leicht stirbt es sich nicht, Mädchen. Das kannst du mir glauben.«
Ein Laut dringt aus seiner Kehle, der klingt wie ein missglücktes Lachen. Ein Räuspern schließt sich an und beendet diesen seltsamen Ton. Nun ist sein Zorn verflogen, ich denke, er ist auch ein wenig gerührt. Jedenfalls berührt er mich später ganz sanft und sehr anders als sonst. Er macht alles so, dass ich allein die ganze Lust erlebe und ihn am Ende bitte, nicht aufzuhören. Anders als Johannes will er wissen, wie die Liebe klingt, auch wenn die Fenster offen stehen.
Die ganze Nacht hält er mich fest im Arm, und am nächsten Morgen fühle ich mich glücklich und heil.
*
Vier ganze Tage bleibe ich bei ihm. Anfangs muss ich immer wieder weinen. Der Umschwung vom Sterbenwollen hin zum Glücklichsein erschöpft mich unsagbar. Wir reden jetzt sehr viel. Er sagt mir, er wisse nicht, wohin alles
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