Irgendwann werden wir uns alles erzählen
Ahnung, wie es weitergehen soll mit mir. Beim Lindenwirt könnte ich bleiben, hat er gesagt, aber das ist auch keine Lösung. Sobald der Freisitz schließt, kommen vor allem die Trinker, nur an den Wochenenden die Leute aus der Stadt und manchmal der Heimatverein. Da ist nicht viel zu tun. Der Siegfried sagte, ich solle wieder zur Schule gehen. Wenigstens die Klasse wiederholen, wenn ich schon nicht das Abitur mache. Wohnen dürfe ich weiter auf dem Hof, fügte er hinzu, und seine klaren Worte machten mich froh. Das alles ist zu viel. Ich taumele haltlos umher, sehe keine Wege oder viel zu viele.
Ich will ihn wiedersehen. Er kommt gar nicht mehr in den Laden. Marianne hat sich schon darüber gewundert, und auch mir kommt das merkwürdig vor. Es gehen Gerüchte um, er hätte plötzlich etwas in der Stadt zu tun, doch keiner weiß Genaues. Ich habe Angst, er könnte mich vergessen. Einfach so. Heute nach der Arbeit werde ich zu ihm gehen.
Kapitel 16
DER LINDENWIRT RECHNET mein Trinkgeld zusammen. Fast sieben Mark sind es, plus den Lohn für acht Stunden Arbeit macht das siebenundvierzig Mark. Das ist nicht wenig. Vielleicht fahren Johannes und ich einmal wieder in die Stadt und gehen aus. Jetzt aber biege ich an der Straße rechts ab, laufe etwa hundert Meter und schlage den Weg zum Henner ein. Mir werden die Beine schon weich, als ich vor dem Tor stehe. Es ist kein Licht zu sehen, auch der Wolga steht nicht dort. Nur die Hunde höre ich im Hof laufen. Ich schleiche um das Haus herum, will nachschauen, ob ein Fenster offen steht, doch alles ist fest verschlossen. Wo soll er nur sein um diese Zeit? Meine kindische Eifersucht packt mich kräftig, und ich kehre um und laufe zurück. Er soll nur nicht glauben, ich hätte nichts Besseres zu tun, als an ihn zu denken. Schließlich ist er auch viel zu alt für mich. Ich laufe immer schneller und habe furchtbare Angst, es könnte mich jemand gesehen haben, jetzt, wo doch gar nichts passiert ist. Ein so unnötiges Ertapptwerden wäre mir nun die größte Schmach.
Der Henner! Bestimmt ist er bei irgendeiner Frau. Wo sonst so spät am Abend? Gerade biege ich in den Weg zum Brendel-Hof ein, als ein Auto über die Brücke kommt. Hinter einer der großen Linden verstecke ich mich und warte. Er ist es, und er ist allein.
Ich bin so glücklich darüber, dass ich wie wild nach Hause renne und die Treppen hinauf zum Johannes. Dort umarme ich ihn stürmisch, und wir schlafen wieder einmal zusammen.
Aber gleich am nächsten Morgen, noch bevor ich meine Arbeit beginne, gehe ich erneut zum Henner-Hof und schiebe einen Brief unter dem Tor hindurch. »Kauf morgen ein paar Sachen bei der Marianne und sag ihr, du holst sie später ab, weil du noch etwas erledigen musst. Ich bringe sie dir dann! Ich weiß nicht, wie ich sonst kommen soll. Maria.«
Den Plan habe ich in der Nacht gefasst. Johannes schlief wie ein Toter; er ist immer so erschöpft am Abend und arbeitet wie besessen an seinen Bildern. Ich weiß keinen anderen Weg. Ich werde dann sagen, dass ich gleich weiter zur Mutter ginge, wenn ich die Sachen abgegeben hätte. Meine Schicht beginnt erst am frühen Nachmittag, bis dahin habe ich eine Menge Zeit.
Seit dem Aufstehen horche ich in den Laden, ob er kommt. Tatsächlich kommen auch ein paar Leute aus dem Dorf. Vorwiegend alte Frauen, die alle mit der Marianne schwatzen wollen. Nur der Henner kommt nicht. Es ist zum Verzweifeln, ich würge das Frühstück hinunter und könnte weinen. Er kommt nicht, kommt nicht, kommt nicht. Und als ich mich umziehe und schließlich den Weg zur Arbeit antrete, ist er immer noch nicht da gewesen. Ich spiele alle möglichen Szenarien durch: Die Hunde haben den Brief gefressen, der Wind hat ihn weggeweht, die Pferde in den Boden gestampft, er ist krank oder betrunken oder beides, und schließlich: Er will mich nicht mehr sehen. Hat einfach genug von mir. Das kommt mir unfassbar vor und doch wahrscheinlich. Dieser Gedanke ist schlimmer als all die Angst vor dem Entdecktwerden.
Ich betrete die Schankstube, werfe meine Tasche hinter den Tresen und beginne meinen Dienst. Am Ende des Tages bin ich sicher, es ist vorbei mit dem Henner und mir. Aus und vorbei. Und neben der Leere fühle ich kurz, nur kurz, eine winzige Erleichterung.
*
Ich sitze im Garten nahe dem Apfelbaum, neben mir liegt die Mutter im Liegestuhl. Die milde Luft tut mir gut. Auch die Ruhe und sogar die Mutter. Ich sitze hier und schaue über den Zaun. Es ist eigentlich nichts zu sehen
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