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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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führe, aber das würde sich fügen. Irgendwie. Trinken geht er gar nicht mehr. Von seiner Mutter spricht er oft. Wie sie ausgesehen hat, so ein feines städtisches Gesicht habe sie gehabt, aber gelacht habe sie fast nie. Und wie sie dann immer mehr getrunken hat und die Flaschen anfangs versteckte, überall, in den Schränken, unter dem Bett, im Stall bei den Pferden und Schweinen, doch später hat sie sich die Mühe nicht mehr gemacht. Dann bekam sie Krebs und lag nur noch im Bett. Sie wollte keinesfalls ins Krankenhaus, und den Großeltern vom Henner war das begreiflich. Die waren Eigenbrötler, und der Großvater hatte gesagt: »Gestorben wird daheim. Wir können sowieso nicht dauernd ins Krankenhaus fahren.« Der Henner war damals fünfzehn. Er saß oft an ihrem Bett und musste ihr vorlesen. Ganze Bücher las er ihr vor, von vorne bis hinten, und beim Sterben war er auch dabei. Nur kurz vorher hat sie ihn rausgeschickt und nach dem Vater verlangt. Sie wollte endlich die Geschichte mit den Russen erzählen. Aber der Henner stand hinter der Tür und lauschte.
    Eigentlich ist alles davon gekommen, von den Russenvergewaltigungen; die hat sie nicht verwinden können. Dem Henner geht das furchtbar nahe. Wenn er von ihr spricht, wird er immer ganz still und auch sehr zornig. Und doch fängt er immer wieder davon an. Wir schlafen jetzt nicht mehr in ihrem Zimmer, sondern unten, in der Kammer neben der Küche, wo er mich zum ersten Mal bekam. Von dort aus sehe ich manchmal rüber zum Brendel-Hof, und ich weiß nicht, wie ich je dorthin zurückkehren soll.
    Ich erzähle ihm, dass der Alfred wohl alles weiß, doch das kümmert ihn nicht. Irgendwann käme es sowieso raus, meint er, und schäbig sei es allemal. Ich gebe ihm recht, diese Lügen sind schrecklich, doch die Wahrheit ist es auch. Einstweilen soll alles so bleiben, wie es ist.
    Ich habe die Küche aufgeräumt und schöne Tischwäsche aufgelegt. Am Mittag koche ich, und am Abend gibt es Brot, Butter, Wurst, Käse und ein paar Tomaten mit Zwiebeln. Oft hilft er mit, er lässt sich nicht bedienen. Diese Mahlzeiten mag ich besonders. Sie geben mir das Gefühl, etwas ganz Normales mit dem Henner zu tun. Alles andere zwischen uns ist doch sehr anders als das, was ich kenne.
    Wenn er arbeitet, lese ich. Später erzähle ich ihm davon, doch das meiste kennt er schon. Trotzdem hört er mir genau zu und will stets wissen, wie ich diese oder jene Figur finde und wer mir am besten gefällt. Einmal sagt er: »Manchmal bist du so klug und dann wieder ein trotziges kleines Mädchen.« Das kränkt mich und macht mich widerspenstig, doch dann lieben wir uns, und ich vergesse alles. Er liebt mich jetzt anders. Nicht mehr so wütend wie am Anfang. Und er schämt sich für nichts; das ist ganz neu für mich. Er sagt mir, was ich tun soll, und fragt mich, was ich möchte. Das Licht macht er niemals aus, er will immer alles sehen. Auch ich soll das tun; er will nicht, dass ich schamhaft den Blick senke vor seinem aufgerichteten Geschlecht. Immer und immer wieder sagt er mir, es sei nichts Schlechtes daran, was wir tun. Dass ich es endlich glauben kann, verdanke ich ihm. Im Grunde ist er mein erster Mann.
    Ich bin niemals wirklich aufgeklärt worden. Alles, was ich über die Liebe weiß, ist aus verborgenen Ecken zu mir gehuscht, mir eingeträufelt worden von anderen, die mehr wussten. Am Ende jedoch hatte das Bild noch viele leere Stellen.
    Mir reicht schon eine einzige zufällige Berührung, wenn er mittags zu mir an den Herd kommt und in den Topf schaut, um ihn erneut zu wollen. Das hat er schnell begriffen und quält mich dann ein bisschen, indem er sich hinter mich stellt und seine Hand langsam unter meinen Rock schiebt, weiter und weiter, seine rauen Finger mich sanft streicheln, ich sie in mir spüre und er sie plötzlich wieder wegzieht. Er liebt es, wenn ich ihn bitte, nicht aufzuhören, und fragt dann immer wieder: »Was, Maria, was genau soll ich nicht aufhören … Sag’s mir, sag mir, was du willst …«, und ich flüstere: »Streichle mich weiter …«, und dann beginnt er von Neuem.
    Es liegt eine Selbstverständlichkeit in all dem, die lässt uns vieles hoffen.
    Am späten Nachmittag des dritten Tages reiten wir aus. Das ist nicht ungefährlich, vom Brendel-Hof aus kann man weit über die Wiesen sehen. Doch wir fühlen uns unverletzlich. Mir gibt er die sanfte Jella, und er nimmt einen Junghengst, den er gerade erst eingeritten hat. Bis zum Waldanfang reiten wir Galopp,

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