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Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen

Titel: Irgendwann werden wir uns alles erzählen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Krien
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nach meiner Rückkehr kommt der Siegfried nach dem Mittagessen zu mir und sagt: »Wir müssen einmal über die Schule reden, Maria. Nächste Woche geht es wieder los. Ich habe mit der Marianne gesprochen. Du kannst bei uns bleiben, aber unsere Bedingung ist, dass du zur Schule gehst – du brauchst einen Abschluss.«
    Ich habe ihm aufmerksam zugehört und tue ein wenig störrisch, obwohl ich es längst selbst entschieden habe. Ich beginne trotzdem noch einen Satz mit »Aber …«, doch der Siegfried unterbricht mich gleich und sagt, ein Aber gäbe es nicht. Ich bin ihm schrecklich dankbar für seine Worte.
    Dann gehe ich auf dem Hof herum und suche nach einer Aufgabe. Es ist ziemlich unordentlich hier; unter dem überstehenden Scheunendach lehnen allerlei Gerätschaften an der Wand: Mist- und Heugabeln, Schaufeln, Rechen, eine alte Sense, Schubkarren, ein kaputter Traktorreifen und noch mehr. Der Hof liegt voller Heu und Hühnerdreck. Ich hole mir einen groben Besen und fege alles zum Tor hinaus. Die Frieda schaut aus dem Küchenfenster, nickt anerkennend und meint, ich solle später in den Garten gehen und Zwiebeln fürs Abendessen holen. Der Siegfried habe sich Bratkartoffeln mit Speck gewünscht. Marianne geht mit einer großen Gießkanne umher und schüttet Unmengen Wasser in ihre riesigen Blumenkübel. Hier und da zupft sie ein bisschen an den Blättern herum und summt ein Lied dabei. Wenn der Siegfried auftaucht, tut sie immer furchtbar beschäftigt, doch wenn sie allein ist, setzt sie sich manchmal auf die Bank unter der Kastanie und schließt die Augen.
    In einer Wolke aus Heu und Staub stehe ich still und halte die Luft an. Die Arbeit auf dem Hof tut mir gut. Anders als beim Lesen und Lernen in der Schule sehe ich hier die Ergebnisse gleich. Die Müdigkeit am Ende des Tages ist schwer und körperlich, der Schlaf tief.
    So vergehen ein paar Tage; ich ruhe mich vom Henner aus.
    *
    Am Abend des 31. August, es ist ein Freitag, sitzen wir alle zusammen vorm Fernseher und sehen Nachrichten. Der Einigungsvertrag wurde unterzeichnet; die DDR tritt der Bundesrepublik Deutschland bei. Wir werden ein Land sein. Der Siegfried macht dennoch ein sorgenvolles Gesicht und sagt: »Die können uns doch nicht gleich ihr ganzes System überstülpen. Das muss langsam angepasst werden, sonst geht hier bald alles drunter und drüber.« Marianne winkt ab. »Ach, du wieder«, sagt sie, »jetzt freu dich doch einfach.« Doch er schüttelt den Kopf und sagt: »Das geht so nicht. Da gibt es hier bald keinen Betrieb mehr, wenn die plötzlich alle wie drüben arbeiten sollen.«
    Ich habe Mühe zuzuhören, ich schweife immer wieder ab und frage mich, ob auch der Henner fernsieht, aber ich habe keinen Fernseher bei ihm gesehen. Die Einigungsfeier soll am 3. Oktober stattfinden. Von da an wird es sie nicht mehr geben, die DDR. Komisch ist das. Das Land, in dem wir alle geboren wurden, löst sich einfach auf, verschwindet, kommt nie mehr zurück. Johannes ist ganz aufgeregt und trinkt ein bisschen zu viel. Ich denke, er ist glücklich. Auch Siegfried sieht im Grunde nicht unzufrieden aus, er hat eben immer was zu meckern. Marianne lenkt ab und sagt, sie wolle unbedingt und sehr bald die Berge in Bayern sehen. Hartmut und Gisela haben gesagt, sie seien jederzeit eingeladen, aber zur Einigungsfeier kommen sie noch einmal zu uns. Der Johannes ist ganz fiebrig und will die Wiedervereinigung nicht auf dem Dorf feiern, sondern lieber in einer großen Stadt. Frieda und Alfred werfen immer mal wieder ein »Ach« oder »Hm« ein, und Lukas langweilt sich ein bisschen. Doch Siegfried erlaubt ihm nicht, in sein Zimmer zu gehen. »Daran sollst du dich einmal erinnern können. Das ist ein historischer Moment.«
    Mir selbst ist es nun auch feierlich zumute, und eine Weile schweigen wir und hören der Nachrichtensprecherin zu. Die ist dieselbe wie immer. Früher berichtete sie von Volkskammersitzungen und der Übererfüllung der Jahrespläne.
    Aber plötzlich springt der Siegfried auf. Er rennt umher und setzt sich wieder, dann sagt er: »Drüben in F. beim Höfer in der Mühle sind die Maschinen noch von vor dem Krieg. Wenn der sich an die Regeln vom Westen halten muss, dann war’s das für den. Und in der Papierfabrik ist es das Gleiche, das weißt du doch, Marianne, die Maschinen sind uralt. Ich war doch drüben beim Hartmut und auf dem Ökohof. Die haben ganz andere Bestimmungen dort. Allein die Sicherheit. Das geht so nicht. Ich sag’s dir, bald

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