Irgendwas geht immer (German Edition)
den Tag legte, das elementare Versehen beging, den Vorhang um ihr Gehirn für einen Moment zu lüften und uns einen Blick auf die Schätze zu gewähren, die dahinter verborgen liegen – die, wie ich zugeben muss, durchaus beeindruckend sind. Wenn man dumm ist, fehlt einem auch die Gabe, anderen zu zeigen, was man hat; liegen die Talente, so wie bei Dora, hingegen lediglich im Verborgenen, kommen sie irgendwann zwangsläufig ans Licht. Und es ist die Pflicht der Lehrer (und sollte eigentlich auch ihr aufrichtiger Wunsch sein), diese Schätze ihrer Schüler aufzustöbern und ihnen dabei zu helfen, sie auch zeigen zu können.
Manchmal, wenn auch nur sehr selten, ist es mir gelungen, mir Zugang zu dieser Schatzkammer zu verschaffen, und Dora hat mir erlaubt, einen flüchtigen Blick auf den Inhalt zu werfen. In diesen Augenblicken platze ich schier vor Stolz. Weniger wegen dem, was sich mir dort eröffnet, sondern eher, weil sie den Mut hat, es zu zeigen – vor allem mir. Denn sie weiß aus Erfahrung, dass es höchstwahrscheinlich den Anforderungen an sie nicht genügen wird. Diese Form der Ablehnung ist ihr mehr als einmal widerfahren, deshalb hat sie sich entschieden, ihr Licht lieber ein wenig unter den Scheffel zu stellen. Dadurch fühlt sie sich sicherer, außerdem verhilft ihr diese Herangehensweise zu einem höheren sozialen Status – die Position der Außenseiterin, der vermeintlich gefährlichen und furchtlosen Rebellin. Es ist eben cool, entweder zum Club der Magersüchtigen oder derjenigen zu zählen, denen sowieso alles scheißegal ist.
Wie sie es in ihrer alten Schule überhaupt geschafft hat, Punkte für den Abschluss zu sammeln, ist mir ein echtes Rätsel und im Prinzip nur ein Beweis dafür, wie clever sie wirklich ist. Ich glaube nicht, dass sich irgendjemand an dieser Schule klargemacht hat, wie viel Kraft und Überwindung es sie gekostet haben muss, am Prüfungstag auch nur einen Fuß in das Klassenzimmer zu setzen. Für sie war es, als betrete sie die Höhle des Löwen, und trotzdem ist sie jeden Morgen hingegangen. Schon im Auto habe ich ihr angesehen, wie es in ihr arbeitete – hingehen und durchfallen? Oder es gar nicht erst versuchen und auch durchfallen? Fürs Schwänzen gäbe es Extrapunkte für die Glaubwürdigkeit und darüber hinaus ein Gefühl der Kontrolle und Selbstbestimmung. Hingehen dagegen war gleichbedeutend mit einem nicht zu leugnenden Gesichtsverlust, weil man zugab, dass einem das Ergebnis doch nicht völlig egal war.
Und man höre und staune: Sie hat vier Prüfungen bestanden. Okay, mit Ach und Krach, aber immerhin – und in Kunst gab’s eine glatte Eins! Unfassbar. Dem Himmel sei Dank für die Aufmerksamkeit und das Mitgefühl ihres Kunstlehrers Ray, dem aufgefallen war, dass sie versucht hatte, ihre Note zu sabotieren, indem sie sich weigerte, ihre Hausarbeit abzugeben – ein Projekt über Väter, bei dem sie ein wunderschönes Pop-Art-Porträt meines reizenden Ehemanns gefertigt hatte. Sie hatte so hart dafür gearbeitet und doch das Gefühl gehabt, dass damit höchstwahrscheinlich kein Blumentopf zu gewinnen war. Sie hatte ihr Versagen regelrecht prophezeit. Selbst bei etwas, das sie unübersehbar gut konnte.
Das war der Augenblick, als wir Dora von der Schule nahmen und nach Brook’s Meadow schickten. Wir erzählten den Lehrern dort von unserer Befürchtung, das Selbstwertgefühl unserer Tochter sei so im Keller, dass es schon gar nicht mehr zu erkennen sei, worauf sie meinten, dies sei genau die Art »Schüler, um die wir uns hier besonders gern kümmern«. Ihr neuer Klassenlehrer versicherte Dora, dies sei die perfekte Gelegenheit, sich völlig neu zu erfinden. Hier könne Dora ihr wahres Ich zeigen und sich einbringen, falls sie es gern tun wollte. Ich weiß, dass sie völlig aus dem Häuschen wegen der Aussicht war, endlich eine neue, hochmotivierte, gute Schülerin zu werden, und dass wir ihre neugewonnene positive Einstellung unterstützen mussten, doch mir war auch klar, dass es schwierig werden könnte, diesen Wandel quasi über Nacht zu vollziehen. Immerhin musste sie sich von Gewohnheiten lösen, die sie bereits ihr gesamtes Leben hindurch begleitet hatten. Ein kurzes Leben, ja, aber trotzdem.
Also standen wir daneben und mussten hilflos mit ansehen, wie sie sich durch ihr erstes Jahr quälte und in regelmäßigen Abständen in ihre alten Verhaltensmuster zurückfiel, scheinbar fest entschlossen, ihre Selbstzerstörung systematisch weiter
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