Irgendwas geht immer (German Edition)
keinesfalls erschöpft sein wollte. Denn es stand meine wichtige zweite Sitzung bei meinem Angebeteten bevor, deshalb durfte ich unter keinen Umständen wegen des eklatanten Schlafmangels ausgezehrt oder müde wirken. Doch dank Dora Dumpfbackes nächtlicher Attacken war ich welk und schlaff, statt durch kecke Verschmitztheit zu brillieren. Möge sie verdammt bis in die Tiefen der Hölle sein. Ich musste meine fünf Sinne beisammenhaben, um meinen süßen Kleinianer auf seinem eigenen Terrain zu schlagen und ihn mit einer virtuosen Kostprobe meines boshaften Witzes zu bezaubern.
Ozeanblau – so lautete die Kleidungsparole des Tages. Azur von Kopf bis Fuß. »Komm nur herein, das Wasser ist herrlich angenehm. Los, Noel. Ich bin dein Ozean. Stürz dich hinein, mit aller Freude und Kraft«, sollte meine Garderobe vermitteln. Unglücklicherweise kann ich keine blauen Beinkleider zu meinem Besitz zählen, doch meine moosgrünen Schlaghosen sollten ihren Zweck erfüllen. Schätzungsweise vermittelte ich zwar noch immer: »Komm, tauch nur ein, Geliebter«, doch der tiefe Grünton der Hosen schien vor allem die Warnung auszudrücken: »Pass auf, dass du nicht über Steine stolperst oder dich in den Algen verhedderst.« Jedoch fragte ich mich, weshalb ich mir überhaupt die Mühe gemacht hatte, als Noel mich mit höchst unerfreulich sachlicher Stimme hereinbat. So als wäre ich nicht mehr als der nächste Patient. Rein und wieder hinaus. Hör auf, mich so zu behandeln, Mister, und lass uns endlich zur Sache kommen.
Wir setzten uns. Er seufzte und lächelte. Für gewöhnlich ist sein Lächeln geradezu atemberaubend und lässt meine Knie weich werden, doch heute entdeckte ich einen winzigen Anflug von Gezwungenheit darin. Jedoch war ich durchaus bereit, darüber hinwegzusehen, immerhin konnte nicht ausgeschlossen werden, dass es lediglich das sichtbare Zeichen seiner flatternden Nerven war. Wäre es möglich, dass Noel schlicht und einfach unter den typischen anfänglichen Bedenken im Hinblick auf seine noch ungestillten Sehnsüchte litt? Dass er nur unter Mühe gegen seine Angst ankämpfte, seiner Liebe Ausdruck zu verleihen, die er nicht beim Namen zu nennen wagte? Das wäre durchaus vorstellbar. Etwas an seinem Verhalten sprach für die gewohnte Selbstsicherheit, und doch … Hmmm.
Er begann unser Gespräch mit irgendwelchem Geplapper, à la er hätte »lange und eingehend über unser letztes Gespräch nachgedacht«, das »sehr faszinierend und herausfordernd« gewesen sei. Oh ja, mein Lieber. Genau diese beiden Attribute treffen voll und ganz auf mich zu. Wohl niemand würde auf die Idee kommen, zu leugnen, dass ich eine höchst faszinierende Persönlichkeit bin. Ich selbst würde mich zwar eher mit dem Begriff »umwerfend« anstelle von »faszinierend« umschreiben, da dies mein Naturell noch etwas treffender auf den Punkt bringt, doch möchte ich mich nicht in Haarspaltereien ergehen.
Dann schlug er vor, ich sollte mich in die Zeit zurückversetzen, als ich etwa drei Jahre alt war, um die Beziehung zu Mama und dem Vater zu analysieren. Nun, es ist wohl ein Tribut an meine erfüllte Kindheit, dass ich mich lediglich an positive Einzelheiten erinnern kann, in deren Mittelpunkt hauptsächlich Mamas Kleiderschrank und herrliche Gutenachtgeschichten aus dem Munde des Vaters stehen. Also gab ich brav eine Reihe köstlicher Anekdoten zum Besten, die den Weg meiner Kindheit bis ins Teenageralter begleitet hatten, wobei ich die beeindruckende Auswahl an herrlichstem Schuhwerk, die diesen Weg gekreuzt hatte, ganz bewusst nicht unerwähnt ließ. Daraufhin meinte Noel, er habe den Eindruck, als behandle ich unsere Sitzung nicht mit dem ihr gebührenden Ernst. Vielleicht hatte er recht, doch waren meine Geschichten weitaus unterhaltsamer als alles, was er mir verzweifelt zu entlocken versuchte, und abgesehen davon wollte ich ihn doch keinesfalls langweilen. Wie hätte ich ihn sonst bezaubern sollen? Völlig ausgeschlossen.
Als Nächstes hob er zu einem wirren Vortrag darüber an, mein »geziertes Gebaren« sei möglicherweise meine Art, meine eigene Persönlichkeit zum Ausdruck zu bringen und mich damit aus den Fängen meiner Eltern zu befreien. Vermutlich sei ich der Ansicht, die Kluft zwischen ihnen und mir sei so gewaltig, dass meine Auflehnung als geradezu »tödliche Aggression« gewertet werden müsse.
»Ich bitte vielmals um Entschuldigung, mein reizender, irriger Junge, aber ich hege gewaltige Zweifel an dieser
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