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Irisches Tagebuch

Irisches Tagebuch

Titel: Irisches Tagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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mehr.‹ — Schlimm war auch der Tag, an dem Tom Duffy den Bären im Zoo den großen Schokoladeneger brachte, den er bei Woolworth geklaut hatte.
    Es waren vierzig Pfund reine Schokolade, und alle Tiere im Zoo wurden wild, weil das Gebrüll der Bären sie verrückt machte. An diesem Tag schien die Sonne so schön, den ganzen Tag über — und ich wollte mit der Ältesten von meiner Ältesten an die See fahren: so aber mußte ich Tom abholen: er lag zu Hause im Bett und schlief fest, und wissen Sie, was der Kerl sagte, als ich ihn weckte? Wissen Sie’s?«
    »Ich entsinne mich nicht .«
    »›Verdammt‹, sagte er, ›warum mußte dieser herrliche Schokoladeneger auch Woolworth gehören. Nicht mal ruhig schlafen laßt ihr einen.‹ O törichte, dumme Welt, in der die richtigen Dinge immer den falschen Leuten gehören, — ein wunderbarer Tag, und ich mußte den blöden Tom verhaften .«
    »Ja«, sagte der Landsmann im Auto drinnen, »auch der Tag, an dem mein Jüngster im Abschlußexamen durchfiel, war so ein herrlicher Tag...«
    Multipliziert man die Anzahl der Verwandten mit deren Lebensalter, dieses Ergebnis dann mit der Zahl 365, dann hat man ungefähr die Anzahl der Variationsmöglichkeiten des Themas Wetter. Man weiß nie, was wichtiger ist: Catie Coughlans Mord oder das Wetter, das an diesem Tag herrschte; wer das Alibi für was ist, läßt sich nicht ‘rauskriegen: ob der Regen für Catie oder Catie für den Regen, das bleibt unentschieden. Ein gestohlener Schokoladeneger, ein gezogener Backenzahn, ein nicht bestandenes Examen: diese Ereignisse stehen nicht einsam in der Welt, sie sind der Wettergeschichte zu-, in sie eingeordnet, sie gehören in ein geheimnisvolles, unendlich kompliziertes Koordinatensystem.
    »Schlimm war es auch«, sagte der Polizist, »an dem Tag, an dem eine Nonne in der Duke Street den toten Indianer fand: Sturm herrschte und Regen peitschte uns ins Gesicht, als wir den armen Kerl zur Wache brachten. Die Nonne ging die ganze Zeit neben uns her und betete für seine arme Seele — das Wasser lief ihr in die Schuhe, und der Sturm war so heftig, daß er ihr schweres, nasses Habit hochhob, und ich konnte für Augenblicke sehen, daß sie ihre dunkelbraune Hose mit rosa Wolle gestopft hatte...«
    »War er ermordet worden ?«
    »Der Indianer? Nein — man hat nie ‘rausgekriegt, wo er herkam, zu wem er gehörte, weder wurde Gift in ihm noch irgendein Zeichen einer Gewalttat an ihm gefunden: er hatte das Kriegsbeil in der Hand, war in Kriegsbemalung und Kriegsschmuck, und weil er ja einen Namen haben mußte — wir erfuhren seinen richtigen Namen nie — , nannten wir ihn Unser lieber roter Bruder aus der Luft. ›Er ist ein Engel‹ weinte die Nonne, die nicht von seiner Seite wich, ›er muß ein Engel sein: seht doch sein Gesicht...‹«
    Glanz kam in die Augen des Polizisten, feierlich straffte sich sein Gesicht, das vom Whiskey ein wenig schwammig war, und er sah plötzlich so jung aus »Wirklich, ich glaube heute auch, daß er ein Engel war: wo sollte er sonst herkommen ?«
    »Merkwürdig«, flüsterte der Landsmann mir zu, »ich habe nie von diesem Indianer gehört .«
    Und ich begann zu ahnen, daß der Polizist nicht der Enkel eines Dichters, sondern selbst ein Dichter sei.
    »Wir trugen ihn zu Grabe, erst eine Woche später, weil wir jemand suchten, der ihn gekannt haben könnte, aber niemand hatte ihn gekannt. Das Merkwürdigste war, daß auch die Nonne plötzlich verschwunden war. Ich hatte doch die rosa Stopfwolle auf ihrer braunen Hose gesehen, wenn der Sturm ihr schweres Habit hochhob — es gab natürlich einen Mordskrach, als die Polizei die Hosen aller irischen Nonnen besichtigen wollte.«
    »Bekamt ihr sie zu sehen ?«
    »Nein«, sagte der Polizist, »wir bekamen die Hosen nicht zu sehen, ich bin sicher, daß die Nonne auch ein Engel war. Wissen Sie, was mich nachdenklich gemacht hat: ob sie im Himmel wirklich gestopfte Hosen tragen ?«
    »Fragen Sie doch den Erzbischof«, sagte der Landsmann, und er drehte sein Fenster noch weiter herunter und reichte die Zigarettenschachtel nach draußen. Der Polizist nahm eine Zigarette.
    Das kleine Geschenk schien den Polizisten an sein eigentliches, dieses lästige irdische Leben erinnert zu haben: alt war plötzlich sein Gesicht wieder, schwammig und schwermütig, als er fragte:
    »Übrigens, kann ich Ihre Papiere einmal sehen ?«
    Der Landsmann unternahm nicht einmal den Versuch, den Suchenden zu spielen: nicht diese künstliche

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