IRRE SEELEN - Thriller (German Edition)
öffnet man es? Man kann ja schließlich nicht einfach in massiven Stein hineinspazieren!«
Pater Bell ließ seine Hände immer noch auf der Zeichnung auf dem Gips ruhen. »Es wäre nicht das erste Mal. Sie kennen sicher die uralte Legende von Theseus, der ein Labyrinth auf Kreta betritt, um dem Minotaurus entgegenzutreten. Dann gibt es natürlich auch deutlich jüngere Schilderungen. Denken Sie etwa an den Rattenfänger von Hameln, der alle Kinder der Stadt mitten in einen Berg hineinführte.«
»Ja, aber wie funktioniert es?«
»Es gibt Rituale für den Eintritt in die Unterwelt, genau wie es Rituale gibt, um in den Himmel zu gelangen. Im Grunde ist das kein großer Unterschied. Im Kirchenschiff der Kathedrale im französischen Chartres befindet sich ein Irrgarten, den man durchlaufen kann. Die Bewegungen, die man dabei absolviert, sind ein ritueller Tanz und zugleich Teil einer Prozedur, mit der man sich in einen Zustand göttlicher Spiritualität versetzt.«
Jack schlug mit der Faust gegen die Wand. »Aber das ist massiver Stein, verdammt noch mal! Ziegel sind wohl kaum besonders spirituell. Kein Geisteszustand, sondern nichts weiter als gebrannter Lehm!«
»Wenn Quintus Miller es geschafft hat, schaffen wir es auch«, beharrte Pater Bell. »Wir sollten in Elmer Estergomys Bibliothek nachsehen. Wahrscheinlich finden wir dort einen Hinweis über das notwendige Ritual.«
Jack trat zurück. Er fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, den Geistlichen mit nach The Oaks zu bringen. Obwohl es in der Wand knisterte und kratzte und sich das ganze Gebäude in ständiger Bewegung zu befinden schien, hielten sich Quintus Miller und seine Anhänger gut versteckt. Von Randy fehlte weiterhin jede Spur und weder Lester noch sonst jemand schien ihm helfen zu wollen, seinen Sohn zurückzubekommen.
»Lester!«, brüllte er noch einmal. »Lester, ich habe euch den Priester gebracht!«
Wieder kam keine Antwort. Jack fühlte, wie sich kalte Verzweiflung in seinem ganzen Körper breitmachte.
»Lester!«, rief er erneut. »Lester, kannst du mich hören, verdammt noch mal? Du hast mir versprochen, dass ihr mir meinen Sohn zurückgebt!«
Fast unmittelbar nach seinem Rufen beulte sich die Wand in der Mitte des Hexagramms aus. Sie nahm die Form eines menschlichen Gesichts an. Das Gesicht eines Jungen – Randys Gesicht. Jack starrte es regungslos an. Er wusste nicht, ob er entsetzt oder erfreut sein sollte. Vielleicht hielt Lester ja doch Wort und ließ Randy gehen. Doch die große Frage war: Was verlangte er dafür als Gegenleistung?
Randys Gesicht, blass wie die Wand, öffnete die ebenfalls weißen Augen.
Daddy? Mir gefällt es hier nicht. Bitte hilf mir! Es klang wie eine ausgeleierte Kassettenaufnahme von Randys Stimme.
Jack trat vor, doch Pater Bell hielt ihn zurück.
»Nicht, Mr. Reed – noch nicht. Es könnte sich um eine Täuschung handeln. Quintus war schon immer ausgesprochen hinterhältig.«
Daddy!, flehte Randy. Du musst mir helfen! Bitte, Daddy, hilf mir!
»Was soll ich tun, Raumflieger?«, erkundigte sich Jack. ›Raumflieger‹ war ein Kosename, den Jack seinem Sohn verpasst hatte, als der noch ganz klein war und sich mit Vorliebe und unter lautem Kichern von seinem Vater durch die Luft werfen ließ.
Daddy, sie wollen frei sein!
Pater Bell packte Jacks Arm noch fester. »Nein!«, keuchte er. »Sie dürfen sie nicht freilassen! Das wäre absoluter Irrsinn! Sie würden morden und vergewaltigen! Sie haben ja keine Ahnung! Diese Geisteskranken sind inzwischen keine Menschen mehr!«
Bitte, Daddy!, flehte Randys maskenhaftes Gesicht.
Jack wandte sich an den Pater. »Hören Sie mal zu. Sie behaupten also, dass sie außer Rand und Band geraten, wenn wir sie freilassen. Aber was sollen sie denn großartig anstellen? Sie sind geistig zurückgeblieben. Sie sind seit über 60 Jahren hier gefangen. Essie Estergomy hat uns erzählt, dass einige auch körperlich behindert sind. Und die Hälfte von ihnen ist splitternackt. Was können sie also tun? Wenn sie flüchten, werden sie ganz schnell von der Polizei aufgegriffen. Besonders, wenn wir die Beamten darauf vorbereiten.«
Pater Bell wollte Jacks Ärmel immer noch nicht loslassen.
»Mr. Reed, Sie haben keine Vorstellung von ihrer Stärke und ihrer Bösartigkeit. Was glauben Sie denn, warum man sie damals nach The Oaks gebracht hat? Haben Sie das Metallgitter an den Treppenfenstern gesehen? Sind Ihnen die Beulen darin aufgefallen? Im einen Moment
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