Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Mal ergab sich ein Gespräch zwischen ihr und diesem Kollegen. In der Folgezeit gab es häufiger Gespräche zwischen den beiden. Man traf sich schließlich sogar privat. Man traf sich häufiger privat... Die Therapie war längst beendet, als Jahre später ein Brief bei Milton Erickson eintraf mit einem Foto. Eine glückliche amerikanische Familie mit vier Kindern, alle »keep smiling«, und unter dem Foto stand: »As you see, Milton, three of my children are blessed with a space. (Wie du siehst, Milton, drei von meinen Kindern sind gesegnet mit einer Zahnlücke.)« So etwas ist geniale Psychotherapie: Die Zahnlücke, die beinahe zum Grund für einen Selbstmord geworden wäre, wird zum Segen, zur Lösung, durch die sich die Patientin aus ihrer belastenden Befangenheit befreite. Solche Interventionen sind Milton Erickson immer wieder gelungen.
Lösungsorientierte Therapie hat sich besonders bei Suchtkranken bewährt. Die sind durch sich selbst und durch ihre Umgebung oft sehr stark auf ihre Probleme konzentriert. Und sie erwarten natürlich, dass nun auch der Therapeut genau danach fragt, was bei ihnen denn so alles schiefgegangen ist. Doch dann sind sie erstaunt, dass man sie zunächst einmal fragt, wie es ihnen gelungen ist, den Rückfall zu beenden. Sie hören verdutzt, dass der Therapeut sich nicht so sehr für ihre Trinkphasen, sondern für die Zeiten der Abstinenz interessiert. Und je mehr sie sich wieder vor ihr geistiges Auge führen, was ihnen im Leben gelungen ist, desto mehr erinnern sie sich an die Fähigkeiten, die sie dafür aktiviert hatten. Ihr Bild von sich selbst wird wieder positiver. Allein dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, es wieder zu schaffen. So wird die Art, wie man nach der Krankengeschichte fragt, schon zur entscheidenden therapeutischen Weichenstellung. Wer - ohne eine solche therapeutische Anregung - nur um die Ursachen seines Problems kreist, der führt sich immer wieder das eigene Versagen vor Augen. Das mag zwar zu Erkenntnissen führen, aber es hilft nicht unbedingt, eine Lösung zu erreichen.
»The solution has nothing to do with the problem« - Die Lösung hat mit dem Problem nichts zu tun. Mit diesem Satz überraschte uns Steve de Shazer zu Anfang des ersten Seminars, das er an meiner Klinik hielt. Was vor allem für tiefsinnige deutsche Gemüter wie eine platte Provokation klang, war Ergebnis einer sorgfältigen wissenschaftlichen Erhebung. Man hatte alle Behandlungsfälle des Instituts in Milwaukee ausgewertet. Man hatte präzise das jeweilige Problem beschrieben, mit dem der Patient in Therapie kam. Man hatte ebenso exakt die Lösung beschrieben, die am Ende der Therapie stand. Und als man dann versuchte, beides in Beziehung zu setzen - fand sich keinerlei Zusammenhang. Eigentlich unglaublich! Man muss doch das Problem erst kennen, bevor man es löst! Doch, recht besehen, ist genau das nicht der Fall. Denn das Problem ist ein Lebensereignis, das irgendwie den eigenen Lebensweg von außen kreuzt. Die Lösung aber müssen wir in jedem Fall mit den besonderen, aber bei jedem Menschen unterschiedlichen Fähigkeiten erreichen, die wir in uns haben. Wenn sich jemand in Stresssituationen durch Musik beruhigen kann, wird er diese Fähigkeit bei ganz verschiedenen - privaten, beruflichen, sozialen - Problemen einsetzen, um eine Lösung zu finden. Bei anderen Menschen wird Musik nicht helfen. Aber auch sie haben in ihrem Leben schon erfolgreich Probleme gelöst - mit anderen Fähigkeiten.
Aus diesem Grunde zeugt der Rat »Ich an Ihrer Stelle würde...« von wenig Professionalität. Die Lösung beruht auf unseren begrenzten, individuellen, von Mensch zu Mensch unterschiedlichen Fähigkeiten. Und auf diese Fähigkeiten muss professionelle Therapie den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit richten. Das Problem dagegen speist sich aus den unbegrenzten Verhängnissen, die die Welt zu bieten hat. Es ist daher unvorhersehbar und, soweit es außerhalb unserer Selbst liegt, auch unbeeinflussbar. Daher sollten wir keine unnötige Zeit auf das Problem verschwenden. »Shit happens« heißt ein wissenschaftstheoretisch überzeugender Aufsatz von de Shazer, in dem er vor allem auf die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins eingeht. Solche Aufsätze haben mir übrigens sehr schnell
das typisch deutsche Vorurteil ausgetrieben, die Kurzzeittherapie de Shazers sei amerikanisches Fast Food für Arme im Geiste. Diese neuen Therapieformen sind nicht nur theoretisch höchst seriös fundiert, sie
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