Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
Mara Selvini Pallazoli besonders deprimierend, dass ihre intensiven therapeutischen Bemühungen keinen wirklichen Erfolg hatten. Da fing sie an, die Familie einzubeziehen und andere
therapeutische Optionen zu nutzen. Und plötzlich stellten sich Erfolge ein.
Wenn ein junges Mädchen magersüchtig wird, so hat das oft mit Krisen zu tun. Mag sein, dass die Eltern vor der Trennung stehen. Die Tochter ist ohnehin in der Pubertät, hat Probleme mit ihren neuen Körperformen, spürt die Spannungen zwischen den Eltern und nimmt ab. Das merken die Eltern und reagieren besorgt. Das nicht selten hochbegabte Mädchen isst immer weniger, treibt unsinnig viel Sport, erbricht heimlich, nimmt dadurch weiter ab, und im gleichen Maße nimmt die Besorgnis der Eltern zu. Immer verzweifelter kooperieren die Eltern, um ihrem Kind zu helfen, das vor ihren Augen bis zum Skelett abmagert. Dann beginnt die psychoanalytische Einzeltherapie mit der Patientin. Doch wie soll das Mädchen in dieser Situation zunehmen? Denn wenn es wieder zunimmt, muss es doch befürchten, dass die Eltern dann nicht mehr kooperieren und auseinandergehen. Die schreckliche Symptomatik hat einen Sinn bekommen und ist daher nicht mehr so leicht auflösbar. So kann jeder verstehen, dass eine Therapie in einem solchen Fall zum Scheitern verurteilt ist, wenn sie nicht das ganze Familiensystem mit in den Blick nimmt. Daher bezog Mara Selvini Pallazoli die Eltern mit ein. Und so konnte es gelingen, einem solchen Mädchen deutlich zu machen, dass die Eltern nicht auseinandergehen würden, wenn sie zunähme, oder dass das Auseinandergehen keine Katastrophe für sie wäre. Erst wenn das Mädchen das wirklich begriffen hat, kann es sich sozusagen wieder erlauben zuzunehmen.
Auch andere Therapieschulen haben inzwischen gelernt, das soziale Umfeld stärker einzubeziehen. Das neue systemische Denken hatte aber noch ganz andere revolutionäre Auswirkungen auf die Psychotherapie. Unabhängig von den Mailänder Ereignissen war es schon in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Palo Alto in Kalifornien entwickelt worden, unter anderem von Gregory Bateson und Paul Watzlawick, dem Autor des Bestsellers »Anleitung zum Unglücklichsein«. Die Palo-Alto-Schule verabschiedete die klassische Auffassung,
als gäbe es »die« Magersucht oder »die« Schizophrenie oder »die« Depression. »Wie wirklich ist die Wirklichkeit?«, hatte Paul Watzlawick provozierend gefragt. Systemische Therapie bot eine völlig neue, viel weniger starre Sicht der Wirklichkeit. Deswegen ist systemische Therapie nicht ein Synonym für Familientherapie, obwohl sie dieser Therapieform viele wichtige Impulse gegeben hat. Familientherapie kann man im Grunde mit jeder Therapieform machen. Aus systemischer Sicht eines Watzlawick löste sich die Wirklichkeit »der« Depression in die oft sehr verschiedenen Sichtweisen des Patienten, der Angehörigen und des Therapeuten auf, und auch im Laufe der Zeit zeigte »die Depression« immer wieder andere Gesichter. Der Therapeut aber hatte die Aufgabe, die nützlichsten Perspektiven herauszufinden und zu verstärken. Dabei fiel plötzlich ins Auge, dass Krankheitssymptome auch einen Sinn haben und nicht bloß als Defizit, sondern auch als Ressource, als Quelle der Kraft, gesehen und genutzt werden können. »Was ist das Gute am Schlechten?«, fragte Paul Watzlawick. Seine Antwort: Perspektivwechsel und überraschende Interventionen. So konnte er in völlig verhedderten Situationen plötzlich »einen auffälligen Unterschied machen, der wirklich einen Unterschied machte«. Die systemischen Therapeuten brachten neuen Schwung in ein System, das zuvor in bestimmten wenig nützlichen und daher leidvollen Riten erstarrt war.
»Warum sind Sie eigentlich so depressiv?« Eine solche Frage an einen Schwermütigen ist aus therapeutischer Sicht eigentlich nicht sehr gescheit. Denn das fragt sich der Depressive ergebnislos ohnehin schon lange. Wenn so jemand nun auch noch einem anderen eine Dreiviertelstunde lang das ganze Elend seines Lebens erzählen soll, dann geht es ihm danach mutmaßlich nicht besser, sondern jetzt geht es ihm richtig schlecht - und er weiß jetzt auch noch warum! Daher stellen systemische Therapeuten ganz andere Fragen. Zum Beispiel: »Wie haben Sie das mit Ihrer Depression eigentlich so lange durchgehalten?« Und auf diese Frage wird der gleiche Patient eine ganz andere Geschichte erzählen. Der gleiche Patient wird erzählen, dass er immerhin
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