Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
sorgen mit ihrer radikalen Konsequenz vor allem dafür, dass Patienten ihre Symptome schnell und nachhaltig loswerden. So etwas kann nicht völlig falsch sein.
Eines Tages kam eine Patientin zu de Shazer, die berichtete, sie habe ein Problem, das ihr so peinlich sei, dass sie es ihm unter keinen Umständen erzählen könne. Normalerweise wäre das wohl bereits das Ende der Therapie, bevor sie begonnen hätte. Bei Steve de Shazer war es anders. Er nahm alle Patienten an, auch die so genannten »nicht Motivierten«. Denn sie kamen ja zu ihm, hatten also irgendein Anliegen. Herauszufinden, wie man auch in komplizierten Fällen helfen könne, sei aber nicht Aufgabe des Patienten, sondern des professionell arbeitenden Therapeuten. Die Aufgabe war in diesem Fall ja klar: Eine Lösung zu finden, ohne das Problem zu kennen. De Shazer respektierte die Bedingung der Patientin und stellte seine Skalenfragen: »Nehmen Sie eine Skala von null bis zehn. Null heißt: Es ist so schlimm, schlimmer geht es nicht. Zehn heißt, Ihr Problem ist vollständig gelöst. Wo liegen Sie im Moment auf dieser Skala?« Die Patientin nannte die Zahl 2. De Shazer stellte seine weiteren Standardfragen: »Wie haben Sie es geschafft, von 0 auf 2 zu kommen, was hat Ihnen dazu geholfen und was ist jetzt auf 2 besser als auf 0?«
Da die Patientin ihr Problem aber nicht nennen wollte und die Antworten Hinweise auf das Problem gegeben hätten, forderte de Shazer die Frau auf, sich die Antworten nur in ihrer Fantasie genau vorzustellen. Das tat die Patientin. Und als sie damit fertig war, stellte de Shazer seine nächste Frage: »Wann waren Sie denn in der vergangenen Zeit mal kurz auf 3 oder 4?« Wieder stellte sich die Patientin diese - besseren - Phasen im Geiste vor. Nach einigen anderen Fragen kam dann noch die »Frage der ersten Stunde«: »Stellen Sie sich bitte bis zur nächsten Sitzung in drei Wochen vor, was sich in Ihrem Leben und an Ihrem Verhalten nicht ändern soll.«
Was sie ändern wollen, wissen die Patienten selbstverständlich, und der Gedanke daran lenkt den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit immer wieder auf die Defizite, die ein jeder Mensch hat und die ihn daran hindern, das schöne Ziel zu erreichen. Die »Frage der ersten Stunde« aber lenkt die Aufmerksamkeit auf all die vielen individuellen Fähigkeiten und Kräfte, die der problembeladene Patient verständlicherweise in der vergangenen Zeit aus dem Blick verloren hat. Ob man in der nächsten Stunde wirklich nach dem fragt, was der Patient nicht ändern will, ist gar nicht entscheidend. Die Frage hat die Aufmerksamkeit des Patienten zwischenzeitlich auf etwas sehr Nützliches gerichtet - und das wirkt. In der zweiten Stunde stellte Steve de Shazer dann noch die berühmte Wunderfrage: »Stellen Sie sich vor, Sie sind müde und gehen abends ins Bett. Und während Sie schlafen, geschieht ein Wunder. Ihr Problem ist mit einem Schlag vollständig gelöst. Sie wachen am Morgen auf, wissen aber nicht, dass das Wunder passiert ist, weil Sie ja geschlafen haben. Woran werden Sie merken, dass das Wunder passiert ist?« Wenn die Antwort nur allgemein formuliert wird wie: »Es geht mir besser«, dann wird weitergefragt: »Woran merken Sie das?«, bis konkret bemerkbare Verhaltensweisen beschrieben werden.
Man kann zur Klärung auch fragen, woran bestimmte Angehörige merken würden, dass das Wunder passiert ist, oder man kann sich dafür interessieren, was man zum Beispiel auf einem Film über die Nach-Wunder-Situation sehen könnte. Dieses Bestehen auf einer konkreten Beschreibung verhindert utopische Zielvorstellungen und lässt das Ziel realistisch wirken. Der Clou an der Wunderfrage ist, dass der Patient sein höchst individuelles Ziel der Therapie beschreibt. Der eine wird erzählen, dass er dann endlich wieder morgens früh selbst das Frühstücksei kochen und die Zeitung holen wird. Für einen anderen wäre ganz im Gegenteil das entspannte Ausschlafen nach dem Wunder wieder möglich. Je länger man darüber spricht, desto intensiver werden natürlich die Bilder der Lösung, und der Patient gerät aus der Problemtrance in eine Lösungstrance, die den Heilungsprozess kräftig vorantreibt.
Zurück zu unserem Fall. Steve de Shazer hatte weitere zwei oder drei Sitzungen mit der Patientin absolviert, in der er noch andere Fragen gestellt hatte, jeweils mit einer vor dem geistigen Auge der Patientin fantasierten Antwort. Die Patientin machte gute Fortschritte und
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