Irre - Wir behandeln die Falschen - Unser Problem sind die Normalen - Eine heitere Seelenkunde
noch ein bisschen malen konnte, dass er noch ein
wenig spazieren gehen konnte, dass er noch einige Freunde besuchen konnte, nicht so viele wie sonst, aber immerhin. Das heißt, der gleiche Patient wird nach einer solchen unerwarteten Frage von seinen höchst individuellen Kräften erzählen, die ihn in der Depression noch aufrecht halten. Und womit soll man denn Psychotherapie machen, wenn nicht mit den Kräften des Patienten? Das liebevoll auszubauen, mehr von dem zu tun, was hilft, das ist Sinn jeder an Ressourcen orientierten Psychotherapie. Je mehr man dagegen in einer Psychotherapiesitzung von den unbestreitbaren Defiziten des Patienten redet, von ihren Ursachen und Folgen, desto mehr verstärkt man im Zweifel seine Hilflosigkeit. Dem professionellen Therapeuten muss es gelingen, die Gedanken eines Menschen wieder auf seine eigenen Kräfte zu lenken. Denn die Gedanken und die Sprache schaffen eine Wirklichkeit, die im wahrsten Sinne des Wortes »wirkt«. Daher ist es wenig nützlich, mit dem Kranken immer wieder über »die Depression« zu reden. Systemische Therapeuten behandeln Diagnosen und Symptome nicht so, als seien das ewige Wahrheiten, sondern sie lösen diese starren Begriffe auf und lenken die Aufmerksamkeit auf die oft höchst kreativen individuellen Lösungen des Patienten in Vergangenheit und Gegenwart. »Diagnosen brauchen wir nur für die Krankenkassen«, meinte Paul Watzlawick einmal schelmisch auf einem Symposium meiner Klinik.
d) Lösungen ohne Probleme - Das Geheimnis der Zahnlücke
Der Amerikaner Steve de Shazer hat diesen Ansatz konsequent weiterentwickelt zur lösungsorientierten Therapie, die radikal vom Problem absieht und nur noch auf die Lösung schaut. Das verkürzt die Therapiedauer und führt zu effektiven individuellen Lösungen. Dabei stützte er sich auf den genialsten Psychotherapeuten des 20. Jahrhunderts, Milton Erickson. Der war behindert, saß im Rollstuhl und war daher darauf angewiesen, Menschen ganz genau zu beobachten. Was sich daraus als Therapie entwickelte, ist mit dem Ausdruck Hypnotherapie nur sehr ungenau beschrieben. Ericksons Interventionen nutzten
die Wirkung von Sprache, angefangen bei der Wahl der einzelnen Worte über den Tonfall bis hin zur Gestik, optimal für die Lösung eines Problems. Hypnose ist demgegenüber bei Erickson eher ein Randphänomen. Dabei ist Hypnose bekanntlich kein unseriöser Firlefanz, sondern eine gute Entspannungsmethode, bei der sich der Patient die Entspannungssuggestionen nicht selbst sagt, wie beim Autogenen Training, sondern bei der ein äußerer Sprecher diese Aufgabe übernimmt.
Die Behandlungsfälle von Milton Erickson sind legendär: Eines Tages kam eine junge Frau zu ihm, legte ein Bündel Dollarnoten auf den Tisch und sagte, das sei ihr restliches erspartes Geld, dafür wolle sie bei ihm Psychotherapie machen, und wenn das aufgebraucht sei, dann wolle sie sich umbringen. Normalerweise würde man eine solche Therapie nicht übernehmen, denn wer will schon einen Menschen unter dem Damoklesschwert des sicheren Suizids behandeln? Doch Erickson hatte eine beeindruckende Menschenkenntnis und er nahm ausnahmsweise diesen Fall an. Die Frau erzählte ihm, dass sie immer wieder Probleme mit Beziehungen hatte. Gerade sei wieder eine Beziehung kaputtgegangen. Sie habe auch den Eindruck, sie sehe irgendwie abschreckend aus, sie hatte nämlich eine Zahnlücke. Die Kollegen am Arbeitsplatz beachteten sie kaum. Der Kollege, mit dem sie zusammen im Zimmer arbeitete, behandelte sie geradezu wie Luft, grüßte sie noch nicht einmal. Nachdem sie Erickson all das geschildert hatte, forderte der sie auf, mit ihm auf den Hof zu gehen. Auf dem Hof war ein Brunnen. Und Erickson forderte die Patientin auf, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen, das Wasser in den Mund zu nehmen und durch die Zahnlücke hindurch auf einen bestimmten Punkt zu spritzen. Die Patientin tat das. Nach einiger Übung hatte sie schließlich eine gewisse Fertigkeit erreicht, durch die Zahnlücke hindurch einen bestimmten Punkt über mehrere Meter hinweg zu treffen. Und da forderte Erickson die Patientin auf, den Kollegen am Arbeitsplatz, mit dem sie zusammen im Zimmer arbeitete, plötzlich und unerwartet mit Wasser durch die Zahnlücke hindurch zu bespritzen, das Ganze nicht zu erklären und den Raum zu verlassen. Die Patientin
wird diese Aufgabe merkwürdig gefunden haben, aber sie hatte ja nichts zu verlieren. Sie tat, was Erickson gesagt hatte. Und siehe da, zum ersten
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