Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
niederfiel, trieb uns die ungeheure Welle, die er nun auslöste, in die offene See hinaus. Bald waren wir wieder an der Ziegeninsel angelangt und beeilten uns, Zeus den edelsten Widder zu opfern, aber der Rauch wollte nicht in den Himmel steigen, er lagerte sich über den Holzstoß und löschte die Flamme: Der König der Götter hatte unser Opfer verschmäht. Da ahnte ich, was uns Ärmsten an Übeln bestimmt war; mir ahnte viel Schlimmes, und doch war, was ich ahnte und fürchtete, ein Nichts gegen das, was dann eintraf. Hätte ich damals den ganzen Umfang meiner Qualen ermessen können, ich hätte mich wohl in mein Schwert gestürzt.
Wir saßen am Strand, bis die Sonne sich neigte, und trauerten um unsere so elend zugrunde gegangenen sechs Kameraden. Dann stachen wir wieder in See.
Zweimal auf Aiolia
Wir ruderten eifrig und stießen bald auf ein schwimmendes Eiland, ein glattes, spiegelndes Felsgestade, das rings um von einer undurchdringbaren Mauer aus Erz um schlossen war. Hier herrschte Aiolos, ein Freund der Unsterblichen, den Zeus zum Wärter über alle Winde der Welt gesetzt hatte. Aiolos war Vater von sechs lieblichen Töchtern und sechs blühenden Söhnen, und da die Insel, des ewigen Heulens und Schnaufens der Win de wegen, von allen andern Siedlern verlassen worden war, hatten die Geschwister einander zu Mann und Frau genommen. Täglich weilten sie bei ihren Eltern zu Gast, und kein Abend verging ohne Schmauserei und Flötenspiel.
Wir wurden freundlich empfangen und gierig nach allen Neuigkeiten ausgefragt. Einen ganzen Monat blieben wir in Aiolos’ Palast, und ich erzählte dem Königspaar und seinen Kindern des Langen und Breiten von den Kämpfen um Troja und meinen Abenteuern zur See, und als ich geendet, sprach Aiolos mir Trost zu und versicherte, meine Irrfahrt werde nunmehr in Bälde geendet sein. Er nahm einen dichtgenähten, aus dem Leder eines neunjährigen Stiers gefertigten Schlauch und tat alle Winde hin ein, die ich zur glücklichen Weiterfahrt etwa benötigen könnte. Die eingesperrten Lüfte heulten und pfiffen, allein Aiolos, ihr Herr, gebot ihnen zu schweigen, verschloss den Schlauch mit einem silbernen Seil und überreichte ihn mir zu guten Diensten. Dann hieß er einen sanften Westwind die Segel blähen, und unsere schwarzen Schiffe glitten in zügiger Fahrt über See.
Wir hatten neun Tage und neun Nächte die Wogen durchmessen, und in der zehnten Nacht waren wir dem heimatlichen Ufer schon so nahe, dass wir die Wachfeuer am Strand erblicken konnten. Ich hatte während der Fahrt beständig das Steuer bedient und keine Ablösung geduldet, um so sicher und schnell wie möglich das Vaterland zu erreichen; nun aber, da ich die Wachfeuer glimmen sah, überwältigte mich der lang entbehrte Schlaf, und ich schlummerte ein.
Darauf jedoch hatten einige meiner Gefährten schon lange gelauert. Der mächtige, mit dem Seil aus Silber versiegelte Schlauch hatte ihreNeugier und auch ihren Neid geweckt; sie wähnten, ich hätte mir Reichtümer angehäuft und sei zu geizig, sie mit ihnen zu teilen, und also tuschelnd und munkelnd kam man überein, den vermeintlichen Schatz, da ich schlief, zu beäugen. Sie nestelten am silbernen Seil, und kaum hatte sich der Knoten ein wenig gelockert, sausten mit einem Schlag die Winde heraus. Der wütigste Oststurm schmetterte gegen die Segel, der Nordwest wühlte das schimmernde Meer auf, Orkane machten die Maste krachen, und, fast die Lüfte durchfliegend, brauste die Flotte, die Ithaka schon so nahe gewesen war, dass man die Rufe der Wachposten hatte vernehmen können, nach Aiolia zurück. Das Tosen der entfesselten Stürme riss mich jäh aus dem Schlaf; ich sah den geöffneten Schlauch und schwankte, ob ich mich in die wilden Wogen stürzen oder auch dieses Leid noch durchdulden sollte, und schließlich entschloss ich mich doch auszuharren und lag mit gramverhülltem Gesicht auf dem Deck und hörte lauter als den Orkan das Seufzen der Männer.
Bald war Aiolia wieder erreicht; meine Gefährten begannen die Schiffe auszuschöpfen, ich aber eilte, von einem Herold begleitet, zum Herrscher, um seinen Schutz und Rat zu erflehn. Verwundert empfing er mich, den er doch längst in Ithaka wähnte. Ich versuchte mit aller Beredsamkeit mein Missgeschick zu schildern, um ihn erneut zu Mitleid zu rühren, allein Aiolos unterbrach meine Rede, erhob sich und rief: ›Heb dich hinweg von der Insel, unseliger Mensch, der du den Göttern ein Greuel sein musst! Zieh ihren Zorn
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