Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus
Gliedmaßen auseinander und schlang sie samt Haaren, Flechsen, Kot und Knochen in sich hinein. Wir standen stumm vor Entsetzen und sahen es an und konnten’s nicht wehren; der Riese rülpste und führte mit beiden Händen den Kessel mit Milch zum blutigen Maul und soff ihn aus bis zur Neige, und in diesem Augenblick hätte ich ihm das Schwert in den Rücken rennen können, genau dorthin, wo die Leber unter dem Zwerchfell sitzt, und ich griff auch schon nach der Waffe, den tödlichen Stoß zu tun, da kam mir jäh der Gedanke, dass wir dann endgültig verloren wären! Niemand anders als der Kyklop konnte ja den Türstein beiseite räumen, und auch wenn unsre Mannschaft nach uns geforscht und bis zum Eingang der Höhle gedrungen wäre, hätte sie selbst mit vereinten Kräften nicht vermocht, den Stein auch nur einen Spaltbreit zur Seite zu schieben, ja, nicht einmal ein Heer hätte jenen Felsen von der Stelle gerückt. Also musste ich den Riesen am Leben lassen; zähneknirschend schob ich mein Schwert wie der in die Scheide, und als der Kyklop sich nach dem wü sten Mahl zur Ruhe gestreckt und über sein Einaug das Lid sich grob und groß wie ein Sack gesenkt hatte, blieb uns trotz unserer guten Waffen nichts anderes übrig, als zitternd und noch immer vor Ekel und Elend stumm den Morgen abzuwarten.
Die Eingeschlossenen befreien sich
In der Früh erhob sich der Riese, gähnte, zündete wieder ein Feuer an, molk die Ziegen und Schafe und legte die Lämmer, Zicklein und Kälbchen an die Euter der Muttertiere, dann packte er wieder zwei meiner Kameraden und fraß sie zum Morgen mahl. Schließlich rückte er den Felsspund zur Seite, trieb die Herde ins Freie, ging selbst hinaus und schloss die Höhle. Wir hörten seine Schritte wie Erdstöße hallen und hörten sein gellendes Pfeifen, mit dem er sein Vieh lockte, dann blieben wir im Dunkel allein.
Meine Gefährten begannen zu jammern; ich aber rief ihnen zu: ›Ans Werk, ans Werk, liebe Kameraden, lasst uns die Stunden für unsre Befreiung nutzen!‹ Dann unterbreitete ich ihnen meinen Plan. Wir durften den Riesen nicht töten, denn er musste uns ja am nächsten Morgen wieder die Tür entriegeln, und da es unmöglich war, ihm zu entwischen, solange er uns erblickte, mussten wir ihn blenden, und dies konnte nur geschehen, wenn er schlief. Alles Weitere würde sich dann finden. Wir nahmen also einen Hirtenstock, der in der Höhle herumlag, einen harten, trockenen Ölbaumstamm von dreifacher Manneslänge, schabten und schnitzten eins seiner Enden zur stechenden Spitze, glühten und glätteten und schabten sie dann wieder, bis sie scharf und spitz wie eine Dolchklinge war. Schließlich deckten wir diesen ungeheuren Speer mit Mist zu, der in mächtigen Fladen zwischen Käse und Sahne sich türmte, und warteten auf des Riesen Rückkunft. Vorher aber hatten wir, da es freiwillig keiner wagen wollte, das Los geworfen, wer den Stoß gegen das Auge des Riesen führen werde, und es war auf mich und vier meiner tüchtigsten Freunde gefallen. Dieses günstige Losorakel ließ uns hoffen.
Am Abend kehrte der Riese mit der wohlgemästeten Herde heim. Diesmal trieb er, die Götter mögen wissen warum, mit den Milchtieren auch die Böcke in die Höhle, wälzte den Stein wieder vor und verrichtete seine gewohnten Abendgeschäfte, zu denen nun auch das Verzehren zweier meiner Männer zu gehören schien. Ich überwand Ekel und Furcht, tratbeherzt vor den schmatzenden Unhold, hielt ihm den Schlauch mit dem trojanischen Schwarzen Wein hin und sagte: ›Hier, Kyklop, nimm und tu einen guten Schluck, auf Menschenfleisch will nicht nur Milch getrunken sein! Viel solcher Schläuche hat mein zerschmettertes Schiff in seinem Bauch geborgen; diesen einen hab ich gerettet und spende ihn dir nun zum Opfer, denn ich sehe wohl, dass du mehr als ein Gott bist! Nimm es in Gnaden auf und vergönne uns dann freie Heimkehr!‹
So sprach ich und schenkte dem Menschenfresser einen Becher des unvermischten betäubenden Weins; das Ungeheuer trank ihn, rollte vergnügt sein Auge, schnalzte mit der Zunge, was wie ein Knall von tausend Peitschen klang, und sprach dann: ›Lieber, schenke mir noch einmal ein, nie trank ich solch einen köstlichen Tropfen! Schenk ein und nenne mir deinen Namen, dass auch ich dich gebührend bewirten kann!‹
Also sprach er, und ich sah sein Auge blitzen; dreimal schenkte ich ihm ein, und dreimal schüttete der Dummkopf den Wein hinunter, und als ich vernahm, wie seine Zunge schon
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