Irrflug
zum Mikrofon des Geräts und drückte den Sprechknopf. „Rottler, melden Sie sich. Ich hab’ gedacht, wir haben die Probleme beseitigt.”
Stille.
„Soll ich dran bleiben?”, fragte der Phantom-Pilot auf derselben Frequenz. Er hatte offenbar die dramatischen Flugmanöver über Ulm aus weitem Abstand verfolgt.
„Ja”, antwortete Häberle abgekämpft und ließ die Sprechtaste los.
„Der haut ab”, stellte er fest, um einigermaßen zufrieden hinzuzufügen: „So lange er nicht wieder zurückkommt …” Er machte eine Pause und suchte Blickkontakt mit dem Oberbürgermeister. Dann sprach er mehr zu sich selbst, als zu den Umstehenden: „Der Junge von der schnellen Truppe hat ihn ja im Visier.”
PD-Leiter Brandel wurde ungeduldig. Er verlangte eine Entscheidung aus dem Innenministerium: „Das Lagezentrum sollte endlich klipp und klar sagen, was wir mit dem Kerl tun sollen.”
Häberle versuchte, Gelassenheit auszustrahlen – wie er das immer tat, wenn sich eine Situation zuspitzte. „Fliegen lassen”, entschied er, „ich bin davon überzeugt, der landet irgendwo, irgendwo in der Schweiz. Die Stuttgarter sollen Kontakt mit der Flugsicherung aufnehmen und es irgendwie managen, dass die Phantom auf die Schnelle ein Überflugrecht kriegt.” Zwei Uniformierte mit vielen goldenen Sternen auf dem Revers stiegen in einen Mannschaftswagen. Häberle wusste, dass derlei Überfluggenehmigungen nicht einfach zu erhalten waren. Und die Zeit drängte. In einer halben Stunde, so schätzte er, würde die Cessna schon am Bodensee sein. Er wusste das ja aus Erfahrung.
Als Häberle in Begleitung des PD-Leiters durch das Tor in den Innenhof des Direktionsgebäudes ging, das schwere Flugfunkgerät in der Hand, da überkam ihn wieder das Gefühl der Hilflosigkeit. Er, der Praktiker, musste tatenlos mit ansehen, wie ein Straftäter flüchtete. Obwohl es vorhin noch den Anschein hatte, als wäre Rottler zu einer Landung in Erbach zu überreden. Offenbar hatte er es sich anders überlegt. Häberle konnte sich auch lebhaft vorstellen, wie Melanie Steinke auf die Schilderungen ihres geliebten Olaf reagiert hatte. Ihre Schreie, die einmal über Lautsprecher zu vernehmen waren, ließen auf eine heftige Auseinandersetzung schließen. Auch wenn es anfangs kein Kidnapping war, sondern eine gezielte Flucht, so war die Frau nach allem, was Rottler gesagt hatte, sicher jetzt nicht mehr damit einverstanden, den Flug fortzusetzen. In Wirklichkeit aber, überlegte Häberle, hatte Rottler wohl angesichts der ausweglosen Situation, die sich für ihn nach dem Auftauchen der Steuerfahnder ergab, gar nicht mehr vorgehabt, mit Melanie Steinke ein neues Leben anzufangen. Nicht wirklich.
Mehrmals hatte Häberle vom Lehrsaal der Polizeidirektion aus noch versucht, die Cessna zu rufen. Erfolglos. Schließlich meldete der Phantom-Pilot, der ihr im Zick-Zack-Kurs in respektablem Abstand folgte, eine Richtungsänderung. Die Cessna ging wohl auf Süd-Ost-Kurs und steuerte auf Bregenz zu.
„Was hat der vor?”, fragte Häberle, ohne von den Männern, die sich mit Akten und Notizzetteln um den weißen Tisch gruppiert hatten, eine Antwort zu erwarten. Ein junger uniformierter Beamter hatte eine Landkarte des süddeutschen Raumes gebracht und sie vor den Männern ausgebreitet.
Häberle drückte den Sprechknopf: „Phantom, Frage: Ihre Position?”
„Wangen im Allgäu”, kam es zurück.
Die Männer machten sich über die Karte her. Einer deutete mit dem Kugelschreiber auf die genannte Stadt.
„Der fliegt das Rheintal rauf ins Engadin”, vermutete PD-Leiter Brandel. Er deutete mit dem Kugelschreiber an, was er meinte: Über Liechtenstein und dann ostwärts nach Davos und weiter bis St. Moritz.
„Seine Lieblingsecke”, kommentierte Häberle und verschränkte die Arme, „hoffentlich tun die Schweizer nichts Unüberlegtes.”
Brandel beruhigte: „Das Lagezentrum hat Kontakt aufgenommen.”
Eine Viertelstunde später meldete die Phantom eine neuerliche Kursänderung: „Zielobjekt Position Oberstaufen. Ostkurs.”
Die Beamten beugten sich über die Landkarte und verfolgten den Kurs. Hektische Bemerkungen. Einige machten sich Notizen, andere telefonierten. Das Lagezentrum des Innenministeriums teilte mit, dass man mit den Schweizer Behörden die Situation erläutert habe. Nun werde man sofort gleiches mit den Österreichern tun. Denn jetzt sah alles danach aus, als würde Rottler den direkten Weg nach Samedan nehmen. Das Wetter war
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