Irrflug
würde es geschehen, durchfuhr es Häberle. Blankes Entsetzen. Ein Aufschrei der Menschenmengen in den umliegenden Gassen. Die Cessna war auf Kollisionskurs zur Turmspitze. Eindeutig. Häberle stand wie erstarrt, fühlte sich wie elektrisiert. Das Katastrophen-Szenario schoss ihm blitzartig durch den Kopf. In wenigen Augenblicken würden brennende Flugzeugteile über die Fassade des Turmes stürzen, würden Stein-Verzierungen abbröckeln und Trümmer umherschleudern. Wenn sie Glück hatten, großes Glück, dann krachte die Cessna nicht ins Kirchschiff und würde keinen unermesslichen Schaden anrichten, womöglich den riesigen Dachstuhl in Brand setzen.
Häberle und seine Kollegen waren fassungslos, nicht in der Lage, etwas zu sagen. Der Rottler musste jetzt völlig verrückt geworden sein. So konnte nur ein Mensch reagieren, der sich vor einer ausweglosen Situation befand. Keine Frage, sie war es wohl auch. Eine Karriere zerstört, keine Perspektive. Einerseits der Schwindel mit der Steuer, auch wenn daran sein Chef nun doch offenbar maßgeblich beteiligt war, andererseits aber auch die jahrelange Liebschaft zu dessen Frau – und dann dieser Mord. Wenn’s denn einer war. Tausend Gedanken gingen dem Soko-Chef gleichzeitig durch den Kopf. Noch zwanzig Meter vielleicht, so schätzte er, dann würde es krachen.
Atemberaubendes Schweigen. Aufheulendes Motorengeräusch, kreischende Menschen. Einsatzkräfte, die ratlos zum Himmel starrten. Doch dann zog Rottler seine Cessna mit einem gewagten Manöver scharf nach links. In letzter Sekunde, so schien es aus Häberles Perspektive. Die Cessna kippte nach links weg, verlor bedrohlich an Höhe, war schließlich nur noch halb so hoch, wie der nahe Turm, doch Rottler konnte sie abfangen, gab Vollgas und zog sie über den Dächern des historischen Fischerviertels wieder nach oben.
„Ein Irrer”, entfuhr es Häberle und holte tief Luft, seine Stirn in tiefe Sorgenfalten gelegt.
„Abschießen”, kommentierte ein ranghoher Uniformierte, „abschießen wär’ das einzig Richtige.” Seine Kollegen schwiegen.
Auch Häberle wollte dazu nichts sagen. Er wusste, dass dem Phantom-Piloten, den sie noch immer abseits kreisen ließen, nur der Verteidigungsminister einen solchen Befehl erteilen konnte. Vor einem halben Jahr, als in Frankfurt ein ähnlich Verrückter um die Banken-Hochhäuser gekreist war, hatte man ebenfalls Abschießen in Erwägung gezogen. Häberle allerdings hielt nichts davon, inmitten einer dicht besiedelten Stadt zu dieser Maßnahme zu greifen. Zumal es sich um keinen Terrorakt handelte. Der Schaden, der entstünde, wäre immens und möglicherweise größer, als wenn die Cessna gegen die Turmspitze flog. Es sei denn, es würde gelingen, sie über der Donau abzuschießen. Häberle verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Denn an Bord befand sich eine weitere Person, von der unklar war, ob sie das Verhalten des Piloten tolerierte, oder ob sie womöglich selbst sein Opfer war. Außerdem machte es keinen Sinn, einem solchen Täter, der zu allem entschlossen war, mit Abschuss zu drohen.
Als das Flugzeug hinter den Giebeln verschwunden war, griff Häberle zum Mikrofon. „Rottler, hören Sie zu”, sagte er eine Spur energischer, „was wollen Sie? Was verlangen Sie, damit dieses Irrsinns-Spiel aufhört? Oder wollen Sie sich tatsächlich das Hirn einrennen?”
Stille. Es schien so, als wolle Rottler nicht mehr reden. „Rottler, hören Sie mich?”, setzte Häberle nach.
Dann endlich seine hämische Stimme: „Schiss gekriegt, was? Heut’ ist Flugtag in Ulm”, Rottler lachte, „was ich will? Dass Sie mir glauben, dass ich mit Ihrem angeblichen Mord nichts zu tun habe.”
Häberle suchte den Himmel ab, weil er befürchtete, dass die Maschine irgendwo hinter den Giebeln unvermutet wieder auftauchen musste. „Okay”, sagte er geduldig, „dann sagen Sie mir doch, wie’s war!”
Da kam die Cessna wieder ins Blickfeld, drüben über dem großen Haushaltswarengeschäft. Verdammt tief, erschrak Häberle.
Melanie Steinke umklammerte Rottlers rechten Oberarm und schüttelte ihn. „Komm zur Besinnung”, schrie sie so laut sie nur konnte. Ihr leichenblasses Gesicht war von blankem Entsetzen verzerrt. „Du hast mir versprochen, dass wir uns ein schönes Leben machen, Olaf, was ist mit dir los? Komm zur Besinnung!” Sie atmete schnell, ihr Herz pochte. Sie fühlte sich hundeelend. Doch Rottler ließ sich nicht beirren und drehte den Steuerknüppel erneut
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