Irrflug
ich anderntags für Steinke nach Samedan bringen sollen, auf sein heimliches Konto. Der Flieger war schon bestellt, auf elf Uhr früh – aber das wissen Sie ja. Doch wir wollten heimlich abhauen”, er lachte wieder, wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und behielt Melanie im Auge, die zusammengekauert und schluchzend ihren Kopf an die rechte Scheibe gelegt hatte. Er sprach weiter: „Es war alles super eingefädelt. Sollte so aussehen, als sei mir etwas zugestoßen. Kidnapping und so. Ein vorgetäuschter Einbruch bei mir. Erinnern Sie sich an die Scheibe?” Rottler lachte wieder. „Da sind Sie misstrauisch geworden, na ja, Sie sind halt ein Profi. Gratuliere.”
Die Frau auf dem Nebensitz schluchzte. „Ich steig’ aus.” Sie begann, einerseits den Gurt zu lösen und andererseits den Türöffner zu suchen.
Rottler warf das Mikrofon zwischen seine Beine und packte die Frau unsanft am Hals. „Einen Dreck wirst du tun”, zischte er. Sie schrie auf, schluchzte, hustete, kämpfte mit dem Erbrechen. „Wenn du nicht augenblicklich ruhig bist”, drohte er und hielt sie am Nacken fest, „schlag’ ich dir die Fresse ein.” Dabei verpasste er ihr einen zweiten Handrückenschlag, diesmal auf die linke Wange. Wieder schrie sie auf. Ihre Nase blutete.
Während die Cessna nun im sanften Bogen über die B 10 nach links eindrehte und die Stadt wieder vor ihnen lag, griff Rottler erneut zum Mikrofon. Doch kaum hatte er den Sprechknopf gedrückt, schrie die Frau: „Hilfe, Hilfe, helfen Sie mir.” Rottler ließ den Sprechknopf wieder los, griff mit der rechten Hand in den Haarschopf der Frau, zerrte ihren Kopf hin und her und hielt ihn im Klammergriff fest: „Du hältst die Schnauze jetzt, sonst lass’ ich mir ganz andere Sachen einfallen.” Sie schluchzte, hustete, prustete und fühlte sich endlos erschöpft.
Häberles Stimme erfüllte ungewöhnlich laut das Cockpit: „Rottler, hören Sie auf! Lassen Sie die Frau! Kommen Sie runter, landen Sie, dann werden wir eine Lösung finden.”
Als Häberle die Frequenz freigegeben hatte, nahm Rottler das Mikrofon wieder zur Hand und sprach triumphierend weiter: „Eine Lösung!”, äffte er nach, „was verstehen Sie schon von einer Lösung!?” Er überlegte einen Moment und vergewisserte sich mit einem Seitenblick, dass Melanie keine neuen Anstalten machte, die Tür zu öffnen. Dann erklärte er weiter, sachlich und ohne Emotionen: „Heidrun und ich wollten ein neues Leben beginnen. Vermutlich hätte lange Zeit niemand unser Verschwinden mit dem geklauten Flugzeug auf der Hahnweide in Verbindung gebracht. Warum auch? Wir wären ein bisschen illegal frühmorgens in den Schweizer Luftraum eingeflogen und hätten die Kiste auf einer gottverlassenen Wiese abgestellt. Vielleicht auf einer Alm, hoch droben auf’m Berg.” Rottler machte eine Pause und lachte, „Geld, Herr Häberle, Geld hätten wir in der Schweiz genug gehabt. Und in Göppingen hätte alle Welt gerätselt. Auch Sie, glauben Sie mir das! Wir haben uns auch alle Mühe gegeben, die Spuren zu verwischen. Sind ohne Auto zur Hahnweide. Nur mit Bahn und Bus, spätnachts. An alles haben wir gedacht”, sagte Rottler stolz, „an alles.” Er überflog jetzt in 50 Metern Höhenabstand die Münsterspitze.
Häberle nutzte eine kurze Pause, während der Rottler die Funkverbindung unterbrochen hatte, um nachzuhaken: „Und warum der Aufwand mit dem Flugzeug? Sie hätten doch genauso gut mit dem Auto abhauen können.”
Rottler blickte auf die in sich zusammengesunkene Frau. Sie schluchzte und weinte hemmungslos. Eine Welt war in ihr eingestürzt.
Die Maschine überquerte erneut die Dächer des reizvollen Fischerviertels, in dem Wasserflächen glitzerten.
Dann antwortete Rottler: „Reden Sie doch nicht so dilettantisch daher! Wir wollten, dass unsere Autos zurückblieben. Es sollte so aussehen, als seien wir gekidnappt worden. Außerdem hatten wir viel Geld dabei, wie Sie wissen, viel Geld. Wenn Sie da irgendwo im Grenzbereich den deutschen Finanzschnüfflern in die Hände fallen, sind Sie dran. Aber wem erzähl’ ich das?” Rottler überlegte, ließ aber die Mikrofontaste gedrückt. „Auf dem Luftweg sind solche Kontrollen eher unwahrscheinlich, schon gar nicht bei Hobbyfliegern. Sie wissen doch, Herr Kommissar, seit dieser Bankrott-Staat seinen Bürgern ans Eingemachte geht, sind Sie mit einem größeren Geldbetrag im Grenzbereich zur Schweiz oder nach Österreich nicht mehr sicher.
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