Irrsinn
japanischen Meiji-Zeit.
Laut mehreren Stammgästen der Kneipe, die sich im Internet über dieses Wohnmobil informiert hatten, war es über einei n halb Millionen Dollar wert. Vermutlich waren die Bronzefiguren darin noch nicht eingeschlossen.
Gelegentlich wurden solche Fahrzeuge auch als »Landyacht« bezeichnet. In diesem Fall war der Begriff nicht übertrieben.
Die geschlossene Tür am anderen Ende des Wohnraums führte zweifellos zum Schlafzimmer und zum Bad. Bestimmt war sie verriegelt.
Hinter diesem letzten Bollwerk musste sich Valis befinden. Lauschend, beobachtend und gut bewaffnet.
Billy hörte hinter seinem Rücken ein leises Geräusch und fuhr herum.
Die Trennwand zum Essbereich war an dieser Seite mit schmalen, horizontal angebrachten Bambusstäben verkleidet. Offenbar handelte es sich um zwei Rolltüren links und rechts des Durchgangs, die sich nun langsam hoben. Dahinter verba r gen sich Vitrinen.
Im nächsten Augenblick senkten sich Jalousien aus gebürst e tem Edelstahl vor sämtlichen Fenstern, jedoch nicht langsam, sondern mit einem pneumatischen Schnappen, das Billy zusammenzucken ließ.
Mit Sicherheit hatten diese Jalousien keinen rein dekorativen Zweck. Durch sie hindurch aus dem Fenster zu entkommen, wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich.
Während der Planungs- und Installationsphase waren sie wahrscheinlich als »Sicherheitsvorrichtung« bezeichnet worden.
Während hinter den sich hebenden Rolltüren immer mehr Vitrinenfächer sichtbar wurden, erklang wieder die Stimme von Valis aus den Lautsprechern: »Sie dürfen meine Sammlung sehen, was bisher nur wenigen vergönnt war. Im Gegensatz zu diesen erhalten Sie zudem die einmalige Chance, danach weiterzuleben. Genießen Sie es.«
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Die Fächer der Vitrinen hinter den Rolltüren waren mit schwarzer Seide ausgekleidet. Darin standen Einweckgl ä ser in zwei verschiedenen Größen, in denen die Sammlung enthalten war.
Jedes Glas stand in einer passenden Vertiefung. Der Deckel wurde von einem Emailbügel gehalten, mit dem das Glas gleichzeitig an die Unterseite des darüber liegenden Fachs geklemmt war.
Wenn das Wohnmobil sich bewegte, gerieten diese Behälter gewiss nicht ins Wackeln. Sie klirrten nicht einmal.
Beleuchtet wurden die Gläser von Glasfaserkabeln in der jeweiligen Vertiefung, sodass der Inhalt vor dem Hintergrund der schwarzen Seide schimmerte. Da das Deckenlicht inzw i schen gedimmt worden war, um die Wirkung der Ausstellung zu steigern, fühlte Billy sich an eine Wand aus Aquarien erinnert.
Allerdings enthielten diese kleinen Glaswelten keine Fische, sondern je eine Erinnerung an einen Mord. In einer konservi e renden Flüssigkeit schwammen Gesichter und Hände.
Die Gesichter machten den gespenstischen Eindruck von bleichen Heuschrecken, die für immer in Wasser schwebten. Sie unterschieden sich kaum voneinander.
Die Hände hingegen taten das durchaus und sagten deshalb auch mehr über das jeweilige Opfer aus. Sie kamen Billy weniger gruslig vor, als er gedacht hätte. Ätherisch und seltsam sahen sie halt aus.
»Sind sie nicht wunderschön?«, fragte Valis. Er klang ein wenig wie HAL 9000 in 2001: Odyssee im Weltraum.
»Sie sind traurig«, erwiderte Billy.
»Was für eine merkwürdige Wortwahl«, sagte Valis. »Mich entzücken sie.«
»Mich erfüllen sie mit Verzweiflung.«
»Verzweiflung«, sagte Valis, »ist gut. Verzweiflung kann der Tiefpunkt eines Lebens und der Ausgangspunkt für den Aufstieg in ein anderes, besseres Leben sein.«
Billy vermied es, sich furchtsam oder angeekelt von der Sammlung abzuwenden. Bestimmt wurde er von Überw a chungskameras beobachtet, und seine Reaktion schien für Valis wichtig zu sein.
Außerdem war die Ausstellung zwar tatsächlich traurig, doch sie besaß auch eine schaurige Eleganz und übte eine gewisse Faszination aus.
Der Sammler war nicht so vulgär, als dass er Genitalien oder Brüste zur Schau gestellt hätte.
Billy ahnte, dass Valis nicht tötete, um sich sexuell zu befri e digen. Er vergewaltigte seine weiblichen Opfer deshalb wohl auch nicht, denn wenn er das getan hätte, so hätte er zumindest diesen einen Aspekt des gemeinsamen Menschseins anerkannt. Offenbar hielt er sich jedoch für eine ganz eigene Sorte Lebew e sen.
Auch mit bunten oder grotesken Objekten hatte der Künstler seine Sammlung nicht verschandelt. Keine Augäpfel, keine inneren Organe.
Gesichter und Hände, sonst nichts.
Während Billy auf die erleuchteten Gläser starrte,
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