Irrsinn
vorbei.
»Sie braucht nichts, was Sie ihr geben könnten«, sagte Valis, »und auch nicht mehr als das, was sie schon hat. Sie lebt im Werk von Dickens und kennt keine Furcht.«
Billy ahnte, was nötig war, um den Künstler hervorzulocken. Er legte den Revolver auf den antiken Shinto-Altar links von der Schlafzimmertür. Dann ging er zur Mitte des Wohnraums zurück und setzte sich dort auf einen Sessel.
71
Stattlicher als auf dem Selbstporträt in Bleistift, das auf seiner Website zu sehen war, trat Valis ein.
Lächelnd nahm er den Revolver vom Altar und begutachtete ihn.
Neben dem Sessel, auf dem Billy saß, stand auf einem Tisc h chen eine weitere japanische Bronze aus der Meiji-Zeit: ein rundlicher, grinsender Hund, der eine Schildkröte an der Leine führte.
Valis kam näher, den Revolver in der Hand. Ähnlich wie Ivy Elgin ging er mit der Anmut eines Tänzers und so, als würde es der Schwerkraft nicht ganz gelingen, seine Schuhsohlen flach auf den Boden zu ziehen.
Sein dichtes, pechschwarzes Haar war an den Schläfen mit Asche bestäubt. Sein Lächeln war überaus gewinnend. Die grauen Augen waren leuchtend, klar und direkt.
Er hatte die Ausstrahlung eines Filmstars. Die Selbstsicherheit eines Königs. Die heitere Gelassenheit eines Mönchs.
Vor dem Sessel angelangt, richtete er den Revolver auf Billys Gesicht. »Das ist die Waffe.«
»Ja«, sagte Billy.
»Damit haben Sie Ihren Vater erschossen.«
»Ja.«
»Wie hat sich das angefühlt?«
Billy starrte in die Mündung. »Grauenhaft«, sagte er.
»Und bei Ihrer Mutter, Billy?«
»Richtig.«
»Es hat sich richtig angefühlt, sie zu erschießen?«
»Damals, in diesem Augenblick, ja«, sagte Billy.
»Und später?«
»Da war ich mir nicht mehr so sicher.«
»Falsch ist richtig. Richtig ist falsch. Es ist alles eine Frage der Perspektive, Billy.«
Billy schwieg.
Um zu erreichen, was ihr nicht seid, müsst ihr den Weg ne h men, auf dem ihr euch nicht befindet.
Über den Lauf der Waffe hinweg sah Valis ihn an. »Wen hassen Sie, Billy?«, fragte er.
»Ich glaube, niemanden.«
»Das ist gut. Das ist gesund. Hass und Liebe erschöpfen den Verstand und hindern am klaren Denken.«
»Die Bronzefiguren hier gefallen mir sehr«, sagte Billy.
»Sind sie nicht wunderschön? Man kann ihre Form, ihre Struktur und die unglaubliche Geschicklichkeit des Künstlers genießen, ohne sich einen feuchten Kehricht um die Philosophie zu scheren, die dahintersteht.«
»Besonders die Fische«, sagte Billy.
»Und weshalb die?«
»Die Illusion ihrer Bewegung. Der Anschein der Geschwi n digkeit. Sie sehen so frei aus.«
»Tja, Sie haben eben ein langsames Leben geführt, Billy. Vielleicht ist es nun Zeit für ein wenig Bewegung. Sind Sie bereit für … Schnelligkeit? Für Ve-lo-zi-tät, sozusagen?«
»Ich weiß nicht recht.«
»Und ich vermute: ja.«
»Für manches bin ich schon bereit.«
»Sie sind hierhergekommen, um etwas Gewaltsames zu tun«, sagte Valis.
Billy hob die Hände von den Armlehnen des Sessels und betrachtete die Latexhandschuhe. Dann streifte er sie ab.
»Fühlt sich dies alles seltsam an, Billy?«
»Ganz und gar.«
»Können Sie sich vorstellen, was als Nächstes geschehen könnte?«
»Nicht deutlich.«
»Ist es Ihnen wichtig, Billy?«
»Nicht so sehr, wie ich gedacht hätte.«
Valis drückte ab. Die Kugel schlug in die breite Rückenlehne des Sessels ein, fünf Zentimeter von Billys Schulter entfernt.
Intuitiv musste er gewusst haben, dass der Schuss kam. Im Geiste sah er den Raben im Fenster, den reglosen, schweige n den, wachsamen Raben. Dann kam der Knall, und er sprang nicht auf, ja er zuckte nicht einmal zusammen, sondern blieb mit meditativer Gleichgültigkeit sitzen.
Valis ließ die Waffe sinken. Er setzte sich auf den Sessel, der dem von Billy gegenüberstand.
Billy schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück.
»Ich hätte Sie auf zwei verschiedene Arten töten können, ohne auch nur das Schlafzimmer zu verlassen«, sagte Valis.
Das zweifelte Billy nicht an. Er fragte gar nicht erst, wie.
»Sie müssen sehr müde sein«, sagte Valis.
»Unvorstellbar müde, ja.«
»Wie geht es Ihrer Hand?«
»Nicht schlecht. Ich hab ein Schmerzmittel eingenommen.«
»Und Ihrer Stirn?«
»Der geht es prima.«
Billy fragte sich, ob seine Augen sich unter den Lidern wohl bewegten, wie es die von Barbara manchmal taten, wenn sie träumte. Doch seine Augen fühlten sich ruhig an.
»Ich hatte eine dritte Wunde für Sie
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