Isau, Ralf - Neschan 03
musste seinen Geist wappnen, wie Yonathan es ihm vor Wochen gesagt hatte.
Noch ehe er seinen Weg fortsetzen konnte, wurde er plötzlich von einer ungeheuren Explosion überrascht. Ihr folgte ein Grauen erregender Klagelaut. Er schaute unwillkürlich zum Himmel hinauf – und sah, wie die Trümmer des Tempeldachs in die Luft flogen, gefolgt von rotblauen Blitzen.
Gimbar flüchtete in eine Ruine, und ehe er ganz begriff, wie ihm geschah, stürzte er schon eine Steintreppe in die Dunkelheit hinab. Der uralte Weinkeller, in den er gestolpert war, bewahrte seinen Besucher vor dem niedergehenden Hagel aus schwarzen Gesteinsbrocken. Gimbar wartete atemlos, bis das Prasseln draußen versiegte – und noch ein bisschen länger. Dann wurde ihm plötzlich bewusst, was das gewaltige Donnern bedeutete. Yonathan war in Gefahr! Er musste zu ihm. So schnell wie möglich!
Wieder auf der Straße, begann Gimbar zu laufen. Die überall verstreuten Trümmer beanspruchten seine ganze Aufmerksamkeit. Viele der steinernen Statuen hatten ihren Kopf verloren, einige lagen umgestürzt im Weg. Nach einer Weile glaubte er Brandgeruch wahrzunehmen. Er lief noch schneller.
Endlich erreichte er den Schwarzen Tempel, oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war. Schwelende Brocken und Schutt von den zerborstenen Wänden bedeckten den Vorplatz. Aus den Ruinen in der Mitte stieg Rauch auf. Von Yonathan fehlte jede Spur.
Gimbar sprang über einige größere Mauerstücke und drang in den Tempel ein. Er musste husten. Obwohl die Wände wie blanker Stein aussahen, brannten sie. Er bemerkte eine große rechteckige Vertiefung voller Staub und Schutt, vielleicht früher einmal ein Wasserbecken.
»Yonathan!«, rief er.
Keine Antwort.
Zu seiner Rechten bemerkte er die Überreste einer Trennwand. Vielleicht hatte das Becken einst Priestern zur zeremoniellen Reinigung gedient, dann musste der andere Raum das eigentliche Heiligtum sein. Er stürzte darauf zu.
»Yonathan! Wo bist du?«, schrie er, zunehmend von Panik erfüllt. Er erreichte das Ende des ausgetrockneten Bassins und erblickte das Zentrum der Verwüstung. Überall loderten Feuer. Im Fußboden klaffte ein gewaltiges Loch, das in grundlose Tiefen hinabzureichen schien. Die Flanken des schwarzen Schlundes bestanden aus geschmolzenem Gestein, sie glühten noch.
»Yonathan!« Tränen der Verzweiflung traten ihm in die Augen.
Die wenigen noch verbliebenen Steinplatten am Boden waren von Rissen durchzogen. Große Bruchstücke lagen überall herum. Gimbar umrundete vorsichtig das Loch, während er weiter Ausschau hielt. Ein plötzliches Bersten, ein katzenhafter Sprung, und da, wo er eben noch gestanden hatte, klaffte ein großer Spalt.
Als ob sich der Tempel selbst im Todeskampf noch wehrte, dachte Gimbar. Er suchte weiter, wich den knisternden Flammen aus. Das Atmen fiel ihm schwer. Jeden Moment konnte hier alles zusammenstürzen. Da bemerkte er hinter Trümmern plötzlich zwei Stiefel. Er stürzte zu der Stelle und stellte mit unendlicher Erleichterung fest, dass in den Schuhen noch ein Mensch steckte. Yonathan hatte hinter einem großen Mauerstück gelegen und war ihm dadurch zunächst entgangen.
Doch in die Freude mischte sich schnell neue Sorge: Der Freund rührte sich nicht, war leichenblass.
Gimbar hob den schlaffen Körper vorsichtig auf die Schulter und suchte die nächstgelegene Bresche in der Tempelmauer. Mit einem riesigen Satz durch die Flammen brachte er sich und Yonathan in Sicherheit. Wieder draußen hielt er auf die erstbeste Straßeneinmündung zu. Noch während er über den Platz hastete, hörte er ein lautes Krachen. Er drehte sich nicht um, denn er wusste, dass die letzten Reste des Schwarzen Tempels in sich zusammengestürzt waren.
Dann geschah etwas Wunderbares: Die dunkle Wolkendecke, die die jahrtausendealte Schmach Abbadons bedeckt hatte, riss auf und goldenes Sonnenlicht ergoss sich über die Stadt. Dies musste ein Zeichen sein, dachte Gimbar. Durch Yonathans Sieg über das Auge Bar-Hazzats hatte der Fluch Yehwohs seine Wirkung verloren. Bald würde die Mara wieder ein blühender Garten sein, genauso wie das Land Baschan auf der anderen Seite des Cedan.
Einige Straßen weiter betrat Gimbar den kühlen Schatten einer Ruine und ließ seine leblose Last vorsichtig zu Boden sinken. Er versetzte Yonathan leichte Schläge auf die Wangen und rief immer wieder seinen Namen.
»Yonathan. Komm zu dir. Ich habe dich nicht aus diesem brennenden Alptraum gezogen, damit du
Weitere Kostenlose Bücher