Isau, Ralf - Neschan 03
Der lederne Spielbehälter wurde hochgehoben und richtig, die Bohne war darunter.
»Gewonnen!«, posaunte der gewichtige Ostmann. »Du hast ein Goldstück dazugewonnen. Jetzt willst du bestimmt weitermachen?«
»Hör auf!«, raunte Gimbar seinem plötzlich so spielwütigen Gefährten ins Ohr.
Yonathan überhörte ihn. Bevor er sich wieder dem Spiel zuwandte, erhaschte er auch noch einen schnellen, neugierigen Blick des Mädchens.
»Der Einsatz bleibt stehen«, sagte er.
»Das nenne ich Mut zum Risiko«, freute sich der Spieler. »Wenn du gewinnst, hast du vier Münzen. Pass gut auf!«
Das tat Yonathan. Er wartete geduldig, bis die Becher wieder zum Stillstand gekommen waren, und setzte dann die Kraft der Bewegung ein, jene Gabe des Koach, durch die er Gegenstände erfühlen und in ihrer Lage verändern konnte ohne sie mit der Hand oder den Fingern zu berühren. In der Vergangenheit hatte er sich dieser Fähigkeit schon oft bedient, um durch sie Formen und Strukturen zu ertasten, die seinem Auge vor allem in der Dunkelheit verborgen waren. Mit Yomi, seinem Freund von der Weltwind, war er vor dreieinhalb Jahren sogar durch das völlig lichtlose Höhlensystem des Ewigen Wehrs gewandert, nur mit der Kraft der Bewegung als Orientierungshilfe.
Die Bohne war schnell gefunden. »Rechts«, sagte er gelassen.
»Bei allen Herden der Ostlande!«, lachte der Becherschieber. »Schon wieder gewonnen. Weiter?«
Yonathan spielte den vom Spielrausch gepackten Tölpel. Er ignorierte Gimbars Warnungen – auch das fast unmerkliche Kopfschütteln des schwarzhaarigen Mädchens, das seine Pelzkappe in die Menge geworfen hatte – und drängte: »Natürlich. Nun mach schon!«
Das Schieben und vorgebliche Raten ging eine ganze Weile weiter. Yonathans untrüglicher Sinn offenbarte ihm sehr schnell, wie das Spiel wirklich funktionierte: Mal schob der Ostmann die Becher sehr schnell und benutzte seine schaufelartigen Hände, um seine Finten geschickt zu verbergen; ein andermal bewegte er die Lederbehälter auf so übersichtlichen Bahnen, dass selbst ein Blinder am Geräusch hätte hören können, wo das Böhnchen abgeblieben war.
Allmählich mehrte sich der Münzenstapel auf Yonathans Tischseite und die Bewegungen des Spielers wurden schneller. Aber Yonathan gewann weiter.
»Brich endlich das Spiel ab«, zischte ihm Gimbar zum wiederholten Mal ins Ohr. Auch schienen ihn Yaminas Augen zu warnen. Trotzdem verlangte er eine weitere Partie.
Yonathan räumte erneut ab und der Ostmann kam ins Schwitzen. Schließlich donnerte er: »Mir scheint, du bist kein Anfänger in diesem Spiel, Junge. Ich gebe auf. Du hast gewonnen.« Er packte seine Sklavin grob am Arm und wollte aufstehen, aber harte Hände drückten ihn sofort auf den Stuhl zurück.
»Weitermachen!«, riefen einige, andere äußerten sich deutlicher: »Feigling, Drückeberger, Blutsauger, Hasenfuß, Betrüger…«
»Wer hat da eben ›Betrüger‹ gesagt?«, brauste der Haarige auf, das Gesicht puterrot.
»Beweise uns, dass du keiner bist«, sagte Yonathan. Alle schauten nun auf den Bedrängten; eine unausgesprochene Drohung lag in der Luft.
»Spielen wir um alles«, schlug darauf Yonathan seelenruhig vor. »Ein allerletztes Spiel. Wenn du gewinnst, erhältst du das Gold, das hier auf dem Tisch liegt, und meine Börse bekommst du noch dazu.«
»Und wenn ich verliere? Ich kann deinen Einsatz nicht mehr verdoppeln. Du hast mir alles abgenommen.«
»Wenn ich gewinne«, sagte Yonathan mit einem Lächeln, »dann bekomme ich deine Sklavin.«
»Yamina? Nie und nimmer!«, brüllte der Ostmann.
Während die Menge der Zuschauer – darunter auch viele um ihren Besitz geprellte Männer – den Spieler mit handfesten Argumenten umzustimmen versuchte, drang Gimbar auf Yonathan ein: »Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Was sollen wir mit einer Sklavin anfangen? Nimm das Geld und lass uns verschwinden.«
»Aus dir spricht der alte Pirat.«
»Jetzt bist du unfair, Yonathan! Immerhin habe ich nie Sklaven gehalten.«
»Du bist aber als Kind Unfreier geboren worden. Du solltest wissen, was ich mit dem Mädchen vorhabe, Gimbar.«
Inzwischen hatte sich der Spieler eines anderen besonnen – wenn auch nicht ganz freiwillig. »Also gut«, zischte er zwischen den Zähnen hervor. »Lass uns um das Mädchen spielen.«
Yonathan nickte und zeigte durch eine Geste an, dass die letzte Runde beginnen könne.
Mit grimmigem Gesicht verdeckte der Ostmann die Bohne und ließ die Becher so
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