Isch geh Schulhof: Erfahrung
habe, wobei Kinder ernsthaft hätten verletzt werden können. Und jetzt soll ich ruhig bleiben?!
»Nein«, sage ich, und vor Verzweiflung steigen mir Tränen in die Augen. »Ich bleibe nicht ruhig! Ich kündige!«
Mein Puls rast immer noch.
Friedrich blickt weiter aus dem Fenster.
»Wissen Sie, ich habe mich schon länger gefragt, wann so etwas passiert.«
»Was? Und trotzdem haben Sie mich weitermachen lassen?«
Beschwichtigend erklärt er, dass viele junge Lehrer früher oder später auf eine solche Situation stoßen und danach aufgeben wollen. Und er gibt zu, dass die Klasse 4e einen besonderen Härtefall darstellt.
»Sie können sich doch vorstellen, warum Frau Gärtner seit Wochen krank ist, oder?«
»Burn-out«, sage ich und wundere mich, warum mir das nicht schon früher eingefallen ist.
»Kurz davor.«
Dann schlägt Friedrich mir vor, den Rest des heutigen Tages und morgen zu Hause zu bleiben. Ich soll alles noch einmal überdenken und erst in ein paar Tagen entscheiden, ob ich den Job tatsächlich hinschmeißen will. Meine Befürchtung, dass Eltern sich über den Vorfall beschweren werden, nimmt er allerdings nicht ernst.
»Die meisten Eltern der 4e – das ist ja das Problem – melden sich sowieso nicht«, meint er. »In der Klasse besteht dringender Handlungsbedarf, und alle Erziehungsmaßnahmen werden von den Eltern auf die Schule abgewälzt.«
Wie ein Zombie laufe ich schließlich von der U-Bahn nach Hause und setze mich, dort angekommen, in die Küche. Auch wenn Herr Friedrich gesagt hat, ich solle erst in zwei Tagen wieder darüber nachdenken, hat der DJ in meinem Kopfradio Should I stay or should I go? aufgelegt.
Dann fällt mir die Lösung für mein rastloses Gedankenkarussell ein: Womit betäubt der gemeine Bürger entwickelter Industrienationen seine täglichen Sorgen? Genau. Mit Fernsehen. Angesichts des grenzenlosen Schwachsinns, der zu dieser Uhrzeit auf allen Kanälen zu sehen ist, kapituliert mein Hirn schon nach wenigen Minuten vor der Mattscheibe, sodass ich mich endlich der elendigen Frage entziehen kann: Schaffe ich es, diesen Job weiterzumachen? Oder muss ich meinem Bauchgefühl vertrauen und tatsächlich meine Kündigung einreichen?
6
Alles wird gut, oder?
I n der Nacht schlafe ich sehr unruhig. Mit dem spitzen Rest des Lineals fechte ich in meinem Traum gegen eine riesige Schülerarmee, die mich mit Papierfliegern und Cheeseburgern bekämpft. Ich fliehe ins Lehrerzimmer, in dem am Konferenztisch lauter Tiere sitzen. Unter dem Vorsitz eines großen Eichhörnchens, das einen Umhang aus orangefarbenem Vorhangstoff trägt, und einem rauchenden Geier, der Protokoll führt, wird einstimmig beschlossen, dass ich wieder zurück in die Klasse muss.
Mit abwehrenden Handbewegungen wache ich mitten in der Nacht auf, weil ich unter einer Flut von bunten Bällen aus dem IKEA -Kinderparadies begraben werde, als ich die Tür zum Klassenraum der 4e öffnen will. Erst nach einer ganzen Weile kann ich wieder einschlafen.
Am nächsten Morgen fühle ich mich verkatert. Nachdem Sarah gehört hat, was geschehen ist, ist sie am Vorabend noch in die WG gekommen und kümmert sich seitdem sehr liebevoll um mich. Das tut gut, und langsam erwachen auch meine Lebensgeister aus ihrem unruhigen Schlaf.
Beim Frühstück rollen wir das Thema noch einmal auf und besprechen die Vor- und Nachteile einer möglichen Entscheidung meinerseits. Doch so viel wir auch darüber reden, ich bleibe unentschlossen.
»Vielleicht sollte ich der Sache noch eine Chance geben«, überlege ich schließlich.
»Du weißt, dass du niemandem etwas beweisen musst«, meint Sarah. »Aber ich kenn dich doch! Wenn du es nicht noch mal versuchst, dann lässt es dir keine Ruhe.«
Manchmal habe ich das Gefühl, sie kennt mich zu gut.
Und so kommt es, dass ich am folgenden Tag vor der Bürotür von Herrn Friedrich stehe. Diesmal klopfe ich an und betrete erst dann sein Büro.
»Und«, will er nach dem Anstands-Small-Talk wissen, »bleiben Sie?«
»Ja. Aber ich muss Ihnen sagen, dass mir dabei nicht wirklich wohl ist.«
Ich erkläre ihm, dass mir nicht nur die Chaotenklasse und die Lernsituation insgesamt zu schaffen machen, sondern vor allem die Gesamt- oder Lebenssituation einiger Kinder.
»Was meinen Sie?«
»Viele der Schüler sind regelrecht verwahrlost, einige werden ganz offensichtlich misshandelt. Und ich kann nichts dagegen tun«, sage ich und mir schnürt es mal wieder die Kehle zu. »Ein Mädchen aus der zweiten
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