Isch geh Schulhof: Erfahrung
Bevor andere Schüler auf den Hof stürmen, sprechen wir noch über das Gelesene, und ich stelle fest: Trotz, nein, gerade wegen der entspannten Unterrichtssituation haben sie die Geschichte genau verfolgt. Dann entlasse ich die Meute in die Pause.
Auf dem Weg ins Lehrerzimmer holt Pasquale mich ein.
»Herr Möller?« Er zögert einen Moment und schaut betreten zu Boden. »Hat Ihre Mutter Ihnen als Kind einklisch auch Geschischten vorgelesen?«
»Ja, klar. Fast jeden Tag.«
»Wow, sie hamm‘s gut!«, sagt er beeindruckt und schweigt einen Moment. »Meine Mutter liest mir nie vor.«
So steht er vor mir, der arme Tropf: mit dreizehn Jahren ist er in der fünften Klasse, schwer pubertär, depressiv und schulisch entsprechend leistungsschwach – und hat zu Hause niemanden, der ihn durch diesen schweren Lebensabschnitt begleitet. Langsam wird mir klar, wie viele Pasquales durch unsere Straßen laufen, wie viele Menschen von Anfang an keine Chance auf eine emotional gesunde Entwicklung haben, wie wenige den Rückhalt eines stabilen Elternhauses erfahren. Und mit stabil meine ich nicht reich oder klug, sondern in erster Linie liebevoll und interessiert.
Ich muss daran denken, dass einige Kollegen sich ein paar Tage zuvor darüber unterhalten haben, wie wichtig es sei, dass ein Kind fürsorglich behandelt werde und dass es nicht ständig unter Stress stehe. Für die emotionale und kognitive Entwicklung eines Kindes, so sagte eine der Kolleginnen, sei das sogar wichtiger als Einkommen oder Bildungsstand der Eltern. Ein Kollege warf zwar ein, dass Eltern mit ausreichend Geld doch wohl eher in der Lage seien, ihren Kindern eine stressfreie Umwelt zur Verfügung zu stellen.
Als ich jedoch vor Pasquale stehe und mir dieses Gespräch in den Sinn kommt, finde ich das Argument des Lehrers als Erklärung zu einfach. Bei Pasquale und zahlreichen anderen kommen gleich mehrere ungünstige Faktoren zusammen: Sie wachsen in einem bildungsfernen Haushalt auf und werden nicht richtig gefördert. Ihre Eltern bekommen aufgrund ihrer eigenen sozialen Herkunft wenig Geld für viel Arbeit – oder etwas mehr für gar keine! Wer unter derartigem existenziellem Dauerstress steht, hat weder Zeit noch Nerven, um seinem Kind ein liebevolles Zuhause zu schaffen. Und voilà: Fertig ist er, der soziale Vererbungskreislauf. Unser Schulsystem unterbricht diesen Kreislauf nicht etwa, nein, es treibt ihn sogar noch an, weil es soziale Unterschiede zementiert. Wen wundert es da noch, dass Deutschland ganz schlecht abschneidet, wenn verglichen wird, in welchem Land man am ehesten die Chance hat, aus seiner sozialen Schicht aufzusteigen?
Von diesem Standpunkt aus drängt sich der Eindruck auf, dass die Zukunft von Pasquale seit seiner Geburt vorgezeichnet ist. Dabei kommt kein Mensch dumm auf die Welt, aber auf welche Weise sich seine Intelligenz entwickelt, hängt wohl sehr stark damit zusammen, wo und wie er aufwächst.
In der Uni haben wir gelernt, dass zum Zeitpunkt der Geburt bereits ein großer Teil der Entwicklung des Gehirns stattgefunden hat. Wenn das wirklich so ist, dann scheint es umso wichtiger, was in den Monaten davor im Mutterleib passiert. Drogenkonsum ist da natürlich das Schlimmste. Aber was ist, wenn die Mutter einfach gestresst ist – durch den Typen, mit dem sie zusammen ist, oder weil sie sich einfach Sorgen macht, wie sie künftig den Babybrei und die Windeln bezahlen soll? Noch schlimmer wird das Ganze, wenn der Stress nach der Geburt nahtlos weitergeht.
Einer jungen Mutter in meinem Bekanntenkreis, die kurz vorm Durchdrehen war, hat ihre beste Freundin geraten: »Mach dir keine Sorgen, dass deine Tochter sich nicht richtig entwickelt. Zuallererst musst du selbst entspannt sein. Dann ist sie es auch.«
Während ich mit Pasquale rede, wird mir schlagartig bewusst, dass ein solcher Rat für manche Eltern wie ein schlechter Scherz klingen muss – und dazu gehört Pasquales Mutter offensichtlich auch.
»Ich bin ganz sicher, Pasquale«, versuche ich ihn zu trösten, »dass deine Mutter bestimmt gerne mehr Zeit für dich hätte. Was arbeitet sie denn?«
»Früher war sie Frisörin, aber denn warse arbeitslos jewesen, und jetze machtse manschmal so Laub harken und so was.«
Wie ich es mir gedacht habe: mieseste Bezahlung als Frisörin, dann arbeitslos und jetzt in der 1-Euro-Job-Falle. Mit einem aufmunternden Lächeln wünsche ich Pasquale eine schöne Pause und fliehe dann frustriert ins Lehrerzimmer.
Auf dem Weg dorthin
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