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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
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Klasse hat ihrer Klassenlehrerin einen Brief geschrieben, in dem steht, dass sie ihre Mutter und ihren Stiefvater an Stellen küssen muss, die ihr nicht lieb sind.«
    Der Schulleiter sieht einen Moment lang betreten aus dem Fenster. »Das Jugendamt ist in dem Fall informiert worden, wie ich gehört habe«, sagt er dann leise.
    Die Antwort des Jugendamts scheint er auch schon zu kennen: Keine Zeit, wir haben schlimmere Fälle auf dem Tisch und sind personell vollkommen überlastet. Das Schlimmste daran ist, dass es vermutlich sogar stimmt.
    »Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte«, erkläre ich ihm. »Außerdem ist die Situation in der 4e für mich nicht länger tragbar. Und für die Schüler auch nicht.«
    Friedrich gibt zu, dass auch andere Lehrer mit der Situation überlastet sind – und die sind immerhin richtige Lehrer. Dann schickt er mich zur Vertretungsstunde in die 5b und rät mir, den Unterricht langsam angehen zu lassen und eine möglichst entspannte Stunde zu halten.
    Als ich das Büro verlasse, fällt ihm noch etwas ein.
    »Ich freue mich übrigens sehr, dass Sie bleiben.«
    Er sieht dabei irgendwie erleichtert aus, nur ich weiß immer noch nicht so recht, wie es mit mir als Lehrer weitergehen soll.
    In der 5b angekommen, beschließe ich, seinen Rat zu befolgen und meine Nerven vorerst zu schonen. Draußen ist richtig schönes Frühlingswetter, also schlage ich der Klasse vor, den Unterricht auf dem Hof abzuhalten. Die Begeisterung der Kids zaubert mir ein kleines Lächeln ins Gesicht, woraufhin ich mich schlagartig etwas besser fühle. Jetzt muss ich nur noch eine Beschäftigung für draußen finden.
    Mein Blick fällt auf ein Buch, das in einem der Regale steht: Die Abenteuer des Tom Sawyer. Das habe ich früher verschlungen, und zufällig steht es auf dem Lehrplan der Klasse. Lausbubengeschichten mit gutem Ausgang – das ist genau das, was ich jetzt brauche.
    Auf dem Hof angekommen, machen es sich die Kids im Halbkreis auf dem leicht erwärmten Tartanboden bequem, der in der Sonne seinen typischen Kunststoffgeruch ausströmt und mich angenehm an meine eigene Kindheit erinnert. Ich hole mir einen Stuhl, setze mich vor mein Publikum und beginne, aus dem Buch vorzulesen.
    Die Maisonne wärmt uns so angenehm, dass einige Kinder ihre Jacken zu Kissen umfunktionieren und alle viere von sich strecken. Sie liegen mit geschlossenen Augen da, haben die Arme hinter dem Kopf verschränkt und lauschen aufmerksam der Geschichte. Andere sitzen Rücken an Rücken, haben die Hinterköpfe aneinander gelehnt und lassen den Blick in den blauen Himmel schweifen. In den Pausen, die beim Vorlesen entstehen, ist nichts zu hören außer dem Gezwitscher der Vögel und dem sanften Rauschen der Bäume. Als das erste Kapitel zu Ende ist, halte ich einen kurzen Moment inne, spüre die Anwesenheit der zufriedenen Kinder und horche in mich hinein. Und nach all dem Stress der letzten Tage bemerke ich etwas absolut Unerwartetes.
    Ich bin glücklich. Einfach nur glücklich.
    Genau jetzt und genau hier scheint einfach alles richtig zu sein. Ich blinzele, und eine kleine Freudenträne kullert langsam meine Wange hinab. Mit geschlossenen Augen atme ich tief ein und genieße den Moment.
    »Herr Möller?«, meldet sich Pasquale schließlich zu Wort. Er richtet sich langsam auf und schirmt mit der Hand die Augen gegen das Sonnenlicht ab. »Ich könnte hier ewig so liegen, wirklich. Das ist voll schön!«
    Die anderen stimmen ihm zu und bitten mich, weiterzulesen.
    »Ich dachte, ihr wolltet noch auf den Spielplatz?«
    »Nein, Herr Möller, bitte!«, flehen sie mich an. »Lesen Sie noch weiter, ja?«
    Gerne. Mein kleiner Glückstrip will in den nächsten Minuten gar nicht mehr aufhören, und so lese ich Seite um Seite vor. Aus dem Studium weiß ich, dass das, was ich gerade empfinde, eine regelrechte Party ist, die Dopamin, Serotonin und verschiedene Endorphine in diesem Moment in meinem Hirn feiern. Abgesehen davon spüre ich, dass ich mich trotz aller Widrigkeiten in der Rolle des Lehrers pudelwohl fühle. Da schlägt wohl mein familiärer Hintergrund durch, denn ich stamme aus der reinsten Lehrerdynastie. Auf der väterlichen Seite finden sich überall Lehrer: mein Vater, der neben seinem Musikerjob lange als Lehrer gearbeitet hat, sein Vater und zwei seiner drei Brüder. Und auch meine Mutter und ihre beiden Brüder sind als Pädagogen unterwegs.
    Erst die Schulglocke reißt die Kinder und mich aus diesem wunderbaren Erlebnis.

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