Isch geh Schulhof: Erfahrung
kleiner Junge, der die schützende Schulter seines Vaters sucht. Der Gedanke an die Kinder, denen genau dieser Rückhalt fehlt, macht mich noch trauriger. Es vergehen Minuten, bis ich mich beruhigt habe und der vielleicht heftigste Gefühlsausbruch meines bisherigen Lebens ein Ende findet.
Nach einer Packung Taschentücher und einem Besuch auf der Toilette des Cafés, zu dem wir nach meinem Heulanfall gefahren sind, geht es mir langsam besser. Die Erlebnisse der letzten Wochen blubbern endlich aus mir heraus, und so rede ich wie ein Wasserfall. Ich erzähle ihm von den emotionalen Achterbahnfahrten der letzten Tage, von der katastrophalen Unterrichtssituation, von der sprachlichen Unfähigkeit der meisten Schüler, von missbrauchten Mädchen, der Hilflosigkeit des Jugendamts und den Gürtelschlägen der Eltern. Er hört sich alles ruhig an. Ich bin so froh, dass er gerade jetzt für mich da ist. Als ich meine Ausführungen mit der Sorge um die Zukunft unserer Gesellschaft abschließe, nickt er zustimmend.
»Seit einigen Jahren«, sagt er, als ich schließlich verstummt bin, »beobachte ich immer wieder Menschen, die nicht aussehen wie Penner, aber in jedem Mülleimer nach Flaschen suchen.«
»Tja, das könnten die Eltern von einigen meiner Schüler sein.«
Wir schweigen uns einen Moment an.
»Als ich in deinem Alter war«, fährt er dann fort und skizziert die katastrophale Lage der aktuellen Sozialpolitik, deren Auswirkungen an unserer Schule ungefiltert ankommen, mit einem einzigen Satz, »hätten wir uns dafür geschämt, dass ein so großer Teil unserer Bevölkerung in Armut lebt.«
7
Pirschelbär
A m Wochenende sind Sarah und ich auf einem Kindergeburtstag im Prenzlauer Berg eingeladen. Ein totales Kontrastprogramm zu dem, was mir jeden Tag in der Schule begegnet. Als eines der wenigen kinderlosen Paare fühlen wir uns anfangs etwas deplatziert, aber die Eltern von Emma, Rouwen, Tjorven, Paul und Helena-Carmen hören interessiert zu, als ich beginne, von meinem Job als Kiezlehrer zu erzählen. Ihre Kinder werden in kleineren Klassen unterrichtet, die Lehrer haben so deutlich mehr Zeit für jeden Einzelnen und die engagierte Elternarbeit tut ihr Übriges. Dabei geht es allerdings auch eher darum, ob die Kekse, die beim Schulfest gebacken werden, aus Vollkorn oder Dinkel sind. Auch in ihrer Schule gibt es viele Kinder mit Migrationshintergrund, aber dies wird hier eher als Bereicherung verstanden. Und das alles hat in der Tat mit Geld zu tun, denn davon haben die Eltern mehr als die Familien in meiner Schule, selbst wenn sie ›nur‹ zur bildungsbürgerlichen Schicht gehören.
Die kleine Emma beispielsweise ist Tochter einer Deutschen und eines Franzosen und besucht eine Schulklasse mit Kindern amerikanischer, spanischer, afrikanischer, koreanischer und auch türkischer Herkunft. Und noch ein Unterschied wird mir bewusst: Die Umgangsregeln sind komplett anders. Auf Helena-Carmens Schule hält man sich gegenseitig die Türen auf, sagt Danke und Entschuldigung und geht respektvoll miteinander um. Davon können meine Kollegen und ich nur träumen.
Während ich Emma und Helena-Carmen beim erholsam normalen Streit um eine Puppe beobachte, rückt meine eigene Schule in angenehm weite Ferne. Die Mutter von Helena-Carmen schlichtet zwischen den beiden Streithennen, und ich vertilge mein Stück Himbeerkuchen, schlürfe meinen Fair-Trade-Kaffee und vergesse darüber beinahe die Auswüchse des sozialen Elends unserer Stadt.
Am Montag allerdings holt mich die nackte Realität des Hartz- IV -Alltags schneller wieder ein, als mir lieb ist. Schon am Eingang der Schule muss ich in einem Streit vermitteln, der, verglichen mit dem der beiden Prenzlberg-Geburtstagsgäste, geradezu grotesk wirkt.
»Aufhören!«, rufe ich von Weitem und beeile mich, um die Klopperei zu verhindern. »Schluss jetzt!«, sage ich laut, während ich Maik und Jeffrey, zwei klobige Kerle aus einer unserer Sechsten, auseinanderzerre.
»Lass misch!«, brüllt Jeffrey. »Sch’wöre, er hat angefangen, diesem Wichser!«
Wie es tatsächlich zu der Auseinandersetzung kam, werde ich wohl nie herausfinden – wahrscheinlich wissen es die Jungs selbst nicht mehr so genau.
Nachdem ich die Kontrahenten voneinander getrennt und in ihre Klasse geschickt habe, ist mein eigener Ärger schnell verflogen. Ich stelle sogar fest, dass ich mich mit jedem Tag ein wenig mehr an die irrwitzigen Zustände in dieser Bildungseinrichtung gewöhne.
Im Laufe des
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