Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
Vom Netzwerk:
Vormittags wird mir auch wieder bewusst, in wie vielen Fällen ich praktisch kaum dazu komme, wirklichen Unterricht durchzuführen. Stattdessen erledige ich eher die Arbeit eines Sozialarbeiters, der sich um potenzielle Nachwuchskandidaten für die Justizvollzugsanstalt kümmert. Unentwegt schlichte ich Streits, vereitele Prügeleien, widme mich den haarsträubenden Problemen der Schüler, führe Krisengespräche mit Kollegen, nehme an Klassenkonferenzen teil und setze mich mit Eltern auseinander, die ihrer Erziehungspflicht praktisch gar nicht nachkommen. Wenn ich zwischendurch Zeit finde, ein wenig Mathe zu unterrichten, bin ich schon zufrieden. Klassenarbeiten gehe ich mit den Kids im Vorfeld wochenlang durch, und obwohl ich ihnen sogar die Arbeit als Hausaufgabe mitgebe, liegt der Notendurchschnitt am Ende meistens bei der Note vier. Mehr als auf Klassenarbeiten freuen sich die Schüler natürlich auf das Sommerfest der Schule, das kurz vor den großen Ferien stattfindet. Wochenlang wird geplant, alle reden darüber. Und ich für meinen Teil bin rasend gespannt, die Eltern meiner Schützlinge kennenzulernen.
    Schließlich ist der große Tag da: Unser Schulfest findet am letzten Samstag vor den Sommerferien statt, Beginn ist um halb elf. Die Sonne brennt bereits am Morgen unbarmherzig vom Himmel herab, doch in der Absicht, meine fehlende Qualifikation mit seriöser Kleidung zu überspielen, habe ich mich heute für ein Jackett entschieden.
    »Du musst als Lehrer ordentlich aussehen«, meinte auch Sarah zu Hause. »Sonst nehmen dich die Eltern gar nicht ernst.«
    Auf dem Weg zur Schule sehe ich bereits die ersten Familien. Erschreckenderweise entsprechen sie genau dem Bild, das ich im Kopf hatte. Jede Familie lässt sich ohne Weiteres einem meiner Kinder zuordnen. Überall Stämme, überall Äpfel im freien Fall.
    Eine meiner Schülerinnen aus der Fünften entdeckt mich, winkt mir fröhlich zu und will mich ihrer Mutter zeigen, die allerdings mit ihrem Handy beschäftigt ist. Ich habe mich schon immer gefragt, wie jemand mit derart langen Plastik-Fingernägeln die feinmotorischen Anforderungen des Alltags meistert, aber es scheint zu funktionieren. Nachdem ihre Tochter mit minutenlangem Ärmelzupfen und »Mama-guck-doch-mal«-Rufen versucht hat, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sieht die Mutter endlich von ihrem rosa Klapphandy mit Anhänger hoch.
    »Wat is denn, Shanice?«, fragt sie genervt.
    Shanice. Wieder so ein Kind, das nach einem Popstar benannt wurde. Dieses Phänomen ist unter dem Namen Chantalismus oder Kevinismus bekannt und geht auf Namen von englischen oder französischen Serienstars, Popmusikern oder Filmhelden zurück. Zu allergrößten Teilen sind davon Kinder aus bildungsfernen Milieus betroffen.
    Im Internet stößt man bei der Recherche nach Chantalismus auf Namen wie Dustin, Justin, Steven, Kevin, Priscilla, Giulio, François, Sharin, Dominique, Pasquale, Zoë, Joel, Melody, Ashley, Cassidy, Happiness, Marisha, Marusha, Fabienne, Leontina, Leandro, Alessandro, Chanel oder Tynese. Gern werden solche Namen auch im Doppelpack vergeben und dann meist in Furcht einflößenden Kombinationen wie Raik-Werner, Connor-Malloy, Kenneth-Dean, Korbin-David, Aloe-Vera, Cinderella-Estelle, Zarina-Aylin, Kimberly-Michelle, Caydence-Liberty, Noah-Karlfred, Vanessa-Laetizia oder in der ungeschlagenen Verschmelzung dreier Lieblingsnamen wie bei Jaqueline-Chayenne-Chantalle serviert. Auch der Klappentext der Lieblings- DVD dient werdenden Eltern als Anregung. Dabei kommen dann gern mal Namen wie Arwyn-Eleanor, Merlin-Gandalf, Keanu-Neo, Jaydee-Christopher, Rocky-Heinz, Tom-Anakin, Randy-Orlando, Leonardo-Casper, Harry-Hagrid oder Jackie-Norris heraus.
    Was diese Namensverirrungen mit den Kindern anrichten, kann man als Erwachsener nur erahnen. Die vom Chantalismus betroffenen Kinder dagegen können wohl noch nicht einschätzen, was derlei Namen für ihre Zukunft bedeuten – geschweige denn wissen, wie man sie korrekt ausspricht. So erzählt man sich in den Weiten des World Wide Web die Geschichte eines Jungen, der im Kindergarten felsenfest behauptete, er heiße Pirschelbär. Als die Erzieherinnen schließlich einen Blick in die Unterlagen des Jungen warfen, stellte sich heraus, dass sein Name Pierre-Gilbert lautete.
    Was manchem vor Lachen Tränen in die Augen treiben mag, stellt für Kinder jedoch ein ernsthaftes Problem dar, gerade wenn es um die Einschätzung ihrer Leistung in der Schule geht. Neulich

Weitere Kostenlose Bücher