Isch geh Schulhof: Erfahrung
Kollegen weiß ich, dass harte Jungs ihre Show gern vor versammelter Mannschaft abziehen, im Gespräch unter vier Augen aber schnell einsichtig werden. Der Störenfried kommt der Aufforderung murrend nach.
»Wie heißt du?«, frage ich, als wir draußen auf dem Flur stehen.
»Perry.«
»Okay, Perry, dann hör mir mal gut zu.«
»Was ist?«, unterbricht er mich ungeduldig. »Willst du mir in die Fresse hauen?«
»Wie bitte?«, frage ich perplex.
Das ist es also: Er hat Angst, und weil er keinen anderen Weg kennt, drückt er diese Angst durch Aggression aus.
»Nein, natürlich nicht«, sage ich beschwichtigend. »Ich verlange nur von dir, dass du nicht so mit mir sprichst.«
»Is ja gut, Mann! Noch was?«
»Nein, das war’s schon«, entgegne ich und öffne die Tür zum Klassenzimmer.
Er setzt sich auf seinen Platz, verschränkt die Arme und ignoriert mich für den Rest der Stunde. Ich dagegen muss von einem Moment auf den anderen wieder auf gute Laune umschalten und das Quiz fortsetzen. Dass dabei Korea mit Kroatien verwechselt wird, dass die Kids den Unterschied zwischen Städten, Ländern und Kontinenten nicht kennen und mir nur drei Kinder auf Anhieb zeigen können, wo Deutschland liegt, erscheint mir eher nebensächlich. Daran habe ich mich gewöhnt.
Ich verbringe die Pause im Lehrerzimmer und mache mich danach auf den Weg zum kleinen Raum, in dem ich mit einigen Schülern aus der 5b den Mathe-Förderkurs abhalte. Kurz vor meinem Ziel kommt mir eine Kollegin entgegen. Ein paar Schritte hinter ihr läuft Perry, der mich mit finsterem Blick anschaut. Die Kollegin bittet mich um ein kurzes Gespräch.
»Perrys Vater wurde vor zwei Tagen zu Hause von der Polizei abgeholt, weil er Perrys Mutter und auch Perry regelmäßig verprügelt hat«, erzählt sie mir dann. »Er ist starker Alkoholiker und macht jetzt wahrscheinlich erst mal eine Entziehungskur. Wie es danach weitergeht, ist unklar.«
Schon wieder so eine Geschichte. Ihre Worte treffen mich unvorbereitet mitten in die Magengrube.
Perry murmelt eine Entschuldigung und ich entgegne, dass es mir auch sehr leidtue. Ich konnte zwar nicht wissen, was bei ihm zu Hause los ist – aber spätestens nach seiner Frage, ob ich ihm in die Fresse schlagen wolle, hätte ich mir das wohl denken können.
»Alles klar, Herr Möller?«, fragt mich die elfjährige Sandy aus der 5b besorgt, als ich schließlich kreidebleich in meinem Förderkurs auftauche.
Ich weiß, dass es nicht richtig ist, aber ich erzähle den Kindern von meinen Sorgen der letzten Tage und beende meinen Vortrag mit der Geschichte von eben. Natürlich ohne Namen zu nennen. Meine Zuhörerschaft ist nicht sonderlich beeindruckt.
»Aber, Herr Möller«, entgegnet Sandy und zuckt mit den Schultern. »Das ist doch ganz normal. Mein Vater ist auch dauernd betrunken und schlägt uns.«
»Meena och«, stimmt Pasquale zu. »Der schlägt mich sogar mit sein Göhtel, ey. Tut übelst weh, Alta!«
Ich schüttele ungläubig den Kopf und verbringe den Rest der Stunde damit, mit den Kids über ihre Familiensituationen zu sprechen. Wer kann sich schon auf Mathematik konzentrieren, wenn zu Hause der Gürtel geschwungen wird?
Nach der Schule will mich mein Vater auf einen Kaffee abholen. Als ich vor dem Schulgebäude auf ihn warte, bin ich immer noch so aufgewühlt, dass ich mehrmals tief durchatmen muss, um nicht auf offener Straße in Tränen auszubrechen. Ich bin erleichtert, als er anhält und ich in sein unaufgeräumtes Auto steigen kann. Bloß weg hier, das ist mein einziger Wunsch.
»Alles klar?«, fragt mein Vater, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkt. Die Körpersprache, die Mimik und Gestik, die Stimmlage, ja sogar den Tonfall habe ich eindeutig von ihm. Zwei kleine Geheimratsecken durchbrechen seine ansonsten volle Haarpracht, und seine Brille färbt sich im Sonnenlicht leicht dunkel. Wenn er von seinem Job als Kirchenmusiker kommt, trägt er oft einen schicken Anzug mit Krawatte, was ihm ausgesprochen gut steht.
»Was ist denn mit dir passiert?«, will er wissen und legt eine besorgte Miene auf.
Seine vertraute Stimme gibt mir schließlich den Rest. Ohne antworten zu können, breche ich schluchzend in Tränen aus. Mein Vater nimmt mich in den Arm, drückt meinen Kopf fest an seine Brust und versucht, mich zu beruhigen. Ohne Erfolg.
»Ich kann nicht mehr, Papa. Ich kann das einfach nicht mehr«, bringe ich wimmernd hervor und halte mich an ihm fest. In diesem Moment fühle ich mich wie ein
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