Isch geh Schulhof: Erfahrung
offen. Da ich die Aufgabenstellung, mit der Mert-Çan gerade beschäftigt ist, noch nicht kenne, schaltet sich der schlaue A ş kın ein. Mit viel Geduld erklärt er seinem Klassenkameraden, was zu tun ist, und widmet sich dann wieder seinen eigenen Aufgaben. Hier sitzen sich also zwei Jungs gleichen Alters gegenüber und weisen so starke Leistungsdifferenzen auf, dass der eine dem anderen um knapp zwei Jahre voraus ist. Wahnsinn.
»Tja, im letzten Jahr hatten wir bei den Mondkindern eine Verweilerquote von achtundvierzig Prozent«, erklärt Chrissi mir am Ende der Stunde. Wenn sie wüsste, woran das liegt, beantwortet sie meine Frage nach den Gründen für diese erschreckende Zahl, wäre sie längst Bildungsministerin geworden.
Wie ich wird auch Chrissi bei solchen Geschichten oft nach dem Ausländeranteil der Schule gefragt, doch einen direkten Zusammenhang zwischen der Herkunft ihrer Schüler und den schulischen Leistungen kann sie nicht erkennen. Bildungsferne Milieus, stellen wir fest, gibt es schließlich überall. Doch dabei fällt ihr die Geschichte einer türkischen Mutter ein, die den Bezirk und damit auch die Schule verlassen wollte.
»Weißt du, warum?«, fragt sie mich auf dem Weg nach unten. »Zu viele Araber – das hat die Frau tatsächlich genau so gesagt.«
Chrissi erzählt mir von einem Vorfall, den sie vor Kurzem vor der Schule beobachtet hat. Ein junger Mann mit arabischem Migrationshintergrund sei beim Einparken gegen ein anderes Auto gefahren. Als das Rentner-Ehepaar, das zufällig noch im Wagen saß, aus dem beschädigten Auto ausstieg, fing der Typ sofort an, die beiden zu beschimpfen. Chrissi wollte die Polizei rufen, sah dann aber, dass der junge Mann bereits am Telefon hing. Ein paar Minuten später kamen dann allerdings nicht die netten Männer in Grün, sondern drei Autos mit Kumpels, die das ältere Paar lautstark davon abbringen wollten, den Vorfall zur Anzeige zu bringen. Nachdem Chrissi dann doch die Polizei rief, kamen kurze Zeit später die Funkwagen mit Blaulicht aus allen Richtungen.
»Die kennen ihre Jungs hier ganz genau«, fügt Chrissi mit einer hochgezogenen Augenbraue hinzu.
Ich stelle mal wieder fest, dass Lehrerinnen eigentlich regelmäßige Termine beim Psychiater bräuchten, um ihre Sorgen loszuwerden. Bei fast jedem Gespräch unter vier Augen, das ich mit Kolleginnen in der Pause anfange, habe ich das Gefühl, es ohne Weiteres noch Stunden fortsetzen zu können. Laut eines Internet-Artikels, den ich kürzlich zum Thema gelesen habe, können Supervisionsgespräche dem unter Lehrern weitverbreiteten Burn-out-Syndrom vorbeugen. Wenn ich mir aber die finanzielle Lage dieser Schule anschaue, scheinen solche Maßnahmen kilometerweit von einer möglichen Umsetzung entfernt zu sein.
Entrüstet von Chrissis Story verabschiede ich mich von ihr und verlasse das Schulgebäude, um vor der nächsten Stunde noch schnell zum Bäcker zu gehen. Als ich draußen ankomme, sehe ich, dass der Fahrer eines kleinen Lieferwagens die Einfahrt vor der Schule nutzt, um zu wenden, woran er allerdings von ein paar Schülern aus der zweiten Klasse gehindert wird. Mit seiner Hupe und wilden Gesten scheucht er die Kinder weg, die erschrocken zur Seite springen, damit er seinen Wagen schließlich im absoluten Halteverbot abstellen kann. Als er aus dem Auto steigt, spreche ich ihn an, doch zum Gespräch ist der Rowdy offenbar nicht bereit. Stattdessen ballt er die Faust und brüllt mich an.
»Isch mach, was isch will, du Schwuchtel. Klar?«
Ich zucke zusammen und bleibe vollkommen perplex stehen.
»Halt disch raus«, fährt er leiser fort, »sonst hau’sch dir in die Fresse!«
Mit diesen Worten geht er dann weiter, als wäre nichts passiert. Ich kann es kaum fassen und rege mich so sehr auf, dass ich kurz davor bin, die Polizei zu rufen.
»Lass es lieber«, rät mir eine Kollegin aus der Kita resigniert, die ebenfalls vor der Schule steht und meint, das einzige Ergebnis einer Anzeige sei, dass ich dann Stress mit ihm und dadurch auch mit seinen Kumpels bekäme.
Wahrscheinlich hat sie recht. Aber muss man sich von solchen Idioten alles gefallen lassen, nur weil sie keine Gesetze, sondern ›nur‹ die einfachsten Regeln des friedlichen Zusammenlebens brechen? Beim nächsten Mal lass ich mir am besten aufs Maul hauen und rufe dann die Polizei! Aber davor habe ich dann doch zu viel Angst …
Stinksauer setze ich meinen Weg zum Bäcker fort und versuche mich darauf zu konzentrieren, in drei
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