Isch geh Schulhof: Erfahrung
Laternenumzüge werden och immer schlechter, ey!«, pöbelte Opilein damals. »Hier wird ja nichmal jesungen! Justin, hier jehn wa nich mehr hin!«
Auf meine Empfehlung, einfach selbst zu singen, stimmten Oma und Opilein schnell ein schönes Lied an. »Nur nach Hause, nur nach Hause …«, tönten die Damen so laut wie schief und setzten die Darbietung der Stadionhymne des Hertha BSC bis zur Ankunft an der Schule fort.
Seit ich Justins Hintergrund kenne, kann ich sein Verhalten deutlich besser einordnen und ärgere mich weniger über die massiven Störungen, die nicht erledigten Hausaufgaben und seine völlig chaotische Heftführung.
»Also, Justin, was heißt denn very ?«
»Weiß ich nich!«
»Aber du hast es doch eben gesagt!«
»Echt?«
Sein Kurzzeitgedächtnis ist nicht besonders gut entwickelt, sein Langzeitgedächtnis hingegen ist fast gar nicht vorhanden. Die anderen Schüler schmeißen sich vor Lachen fast auf den Boden, aber im Gegensatz zu seinem Sitznachbarn Jack genießt Justin die Rolle als Klassenclown in vollen Zügen. Mit der Zeit habe ich auch die Dosierung herausgefunden, in der ich Justin und seinen albernen Beiträgen Raum geben kann, ohne dass die ganze Klasse ausrastet.
»Du hast also vergessen, was du vor fünf Sekunden gesagt hast?«, frage ich.
»Ja, Herr Mülla, du weißt doch: Isch bin ein bisschen balla-balla.«
Dann beginnt er damit, wild zu zappeln, und ist kurz davor, sich auf den Boden fallen zu lassen. Das ist der Moment, in dem ich ihn stoppen muss. Wenn ich ihn jetzt damit durchkommen lasse, fängt er an, unseren Hausmeister zu imitieren, macht dann Witze über seinen schrägen Opa und beruhigt sich nur mit sehr viel Aufwand meinerseits wieder. Und das gilt es auf jeden Fall zu vermeiden!
Nachdem ich ihn etwas bremsen konnte, erkläre ich der Klasse, dass wir im Englischunterricht hauptsächlich eines tun werden: Englisch sprechen. Den Tipp hat mir Chrissi gegeben, die – im Gegensatz zu mir – studierte Englischlehrerin ist. Also immer rinn ins Jetümmel! Ich verteile die Englischbücher und die Arbeitshefte, die vom Verlag so gut gestaltet wurden, dass ich mich als ungelernter Lehrer nicht mit zäher Vorbereitung herumschlagen muss, sondern mich voll auf den Unterricht konzentrieren kann. Doch bevor ich loslege, muss ich erst einmal prüfen, was die Klasse in Englisch so draufhat.
»Wir fangen mit einem Bericht aus den Ferien an. Wer kann auf Englisch beschreiben, was er im Sommerurlaub gemacht hat?«, will ich wissen.
Drei Kinder melden sich.
»Ja, Cai-Thao, bitte!«
»In my holidays, I visited my aunt in … äh … Süddeutschland, and it was very nice!«
»Sehr gut!«, lobe ich sie und übersetze für die anderen, was Cai-Thao gesagt hat. Chrissi hat mir nämlich auch erklärt, dass ich meinen Unterricht auf keinen Fall ausschließlich auf Englisch halten soll. Es gebe zwar Stimmen, die das empfehlen, aber die Kinder würden in der Regel kein Wort verstehen. Stattdessen solle ich meine Fragen und Anweisungen immer erst auf Englisch formulieren und dann auf Deutsch wiederholen.
»Okay, who else? Wer möchte noch von seinen Ferien berichten?«
Eigentlich ist es mies, aber weil sich sowieso immer dieselben melden, frage ich gern die Schüler, die nicht freiwillig mitmachen. Schließlich sollen sich alle am Unterricht beteiligen. Also frage ich Ali. Im Unterricht wirkt er meist freundlich und zurückhaltend, doch auf dem Schulhof sieht das vollkommen anders aus.
»No«, antwortet er schüchtern.
»Möchtest du nicht antworten, oder warst du nicht im Urlaub?«
»Doch, isch hab Libanon gegeht, aber sch’weiß keine Englisch.«
Man kann Ali sprachlich anmerken, dass er mit der Muttersprache seiner Eltern aufgewachsen ist, und bevor man sich aufmacht, jemandem wie ihm Englisch beizubringen, sollte man vielleicht erst einmal mit Deutsch anfangen. Aber das ist hier nicht meine Aufgabe. Zumindest noch nicht.
»So, Ali went to Libanon. Did you enjoy it? Hat’s Spaß gemacht?«
Er schüttelt den Kopf, also frage ich ihn nach dem Grund für seine Antwort.
»Sch’weiß nisch. Libanon is voll heiß und schmutzig und so.« Er lächelt verlegen.
»So you like the weather in Germany more? Magst du das Wetter hier mehr?«, will ich von ihm wissen, doch Deutschland, antwortet er, sei ihm zu kalt.
Libanon zu heiß, Deutschland zu kalt. In dieser einfachen Formel verbirgt sich das klassische Problem vieler Migranten: Egal, wo sie sind, sie fühlen sich nicht wohl.
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