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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
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dienstliche Anweisung betreten. Das bedeutet in der Praxis: Sie verweigern sich der Arbeit in dieser Klasse – es sei denn, es droht ein Disziplinarverfahren.
    Na gut.
    Bevor ich das Lehrerzimmer Richtung 6a verlasse, atme ich noch einmal tief durch. Ich weiß schließlich, was mich erwartet: eine Klasse, die nun den fünften Klassenlehrer bekommt, die auseinandergerissen und wieder zusammengelegt wurde. Eltern, die von den ständigen Lehrerwechseln zu Recht die Nase voll haben und sich regelmäßig über das sinkende Leistungsniveau beschweren. Einen sogar für unsere Schule außergewöhnlich hohen Anteil an sozial benachteiligten Kindern. Und ein Aggressionspotenzial, das in nahezu allen Situationen erkennbar ist. Bei dieser Liste, die ich lange fortsetzen könnte, atme ich besser noch ein zweites Mal durch … Puh!
    Auf dem Weg nach oben begegnen mir bereits die ersten Schüler aus der Klasse, und als ich den Klassenraum erreiche, stürmen alle auf mich zu und rufen wild durcheinander.
    »Herr Mülla, wir waren deine Ferien?«
    »Herr Mülla, Ferien isch hab Türkei gegeht!«
    »Machen wir jetzt Musik?«
    »Hast du eine Freundin?«
    Und so weiter und so fort.
    Mit Worten braucht man dagegen gar nicht anzukämpfen, deswegen gehe ich langsam und leise zum Lehrertisch und lege meine Jacke und meine Tasche ab. Dabei fällt blöderweise mein Feuerzeug aus der Tasche, und an den folgenden Fragen, mit denen die Kids mich daraufhin bombardieren, lässt sich gut erkennen, in welcher Lebenswirklichkeit sie unterwegs sind.
    »Ohaaaaaa, eine Feuerzeug!«, brüllt Ali und weckt damit die Aufmerksamkeit der anderen.
    »Herr Müller, rauchst du?«
    »Herr Müller, trinkst du Bier?«
    »Herr Müller, spielst du Karten um Geld?«
    So sieht’s also aus: Wer ein Feuerzeug bei sich führt, steht schnell im Verdacht, an halblegalen Pokerturnieren teilzunehmen!
    »Ja, manchmal. Ja, gerne. Nein, nie«, beantworte ich die drei Fragen in der Reihenfolge, schnappe mir ein Stück Kreide und male drei Kreise an die Tafel. Dieses einfache Belohnungs- und Bestrafungssystem haben die Kids über die Ferien wohl nicht vergessen.
    »Züüüüüsch, die drei Kreise«, klingt es respektvoll aus den Reihen.
    »Vallah, schnell hinsetzen!«
    »Ohaaaaa, er’s übertrieben streng!«
    Nach weniger als einer Minute ist vorläufig Ruhe eingekehrt, was ich als neuen Rekord verbuche. Ich setze mich mit halbem Hintern auf den Lehrertisch und will meine erste Frage stellen. Zum Glück fällt mir noch rechtzeitig ein, dass ich zuvor immer auf die alte Erst-melden-und-dann-sprechen-Regel hinweisen muss.
    Kaum ist meine Frage gestellt, was die drei Kreise bedeuten, fangen vier Kids gleichzeitig an zu reden. Ich schließe die Augen, atme langsam aus, drehe mich zur Tafel um und wische einen der Kreise ab. Währenddessen entsteht ein kurzes Gemurmel, die vier Vorlauten werden als Opfer und Spasten bezeichnet, und als ich mich wieder umdrehe, ist Ruhe eingekehrt. Dieser Zustand ist hier jedoch ständig in Gefahr: Schon der kleinste Fehler meinerseits, ein herunterfallender Stift oder auch nur ein Vogel, der am Fenster vorbeifliegt – und schon bricht Chaos aus. Bis dann wieder Ruhe eingekehrt ist und ich zum Unterrichtsthema zurückkommen kann, gibt es längst den nächsten Anlass zur Unruhe.
    Der einzige Weg aus diesem Teufelskreis heraus besteht meiner Erfahrung nach in meinem Auftritt als frontalpädagogische Dampfmaschine. Mit im Militärton vorgetragenen Befehlen komme ich hier halbwegs voran. Das widerspricht zwar komplett meinen pädagogischen Vorstellungen, aber es funktioniert. Lasse ich die pädagogische Leine ein bisschen länger, bekomme ich fast immer sofort die Quittung dafür.
    Jack meldet sich. Wann immer ich die Chance dazu bekomme, versuche ich ihn zu fördern. Er hat in der Lotterie des Lebens ein wirklich schweres Los gezogen. Vielleicht sogar eine Niete. Er wird sogar von den Außenseitern der Klasse verarscht, weil die glauben, sich so bei den Coolen beliebt zu machen. Bei einer Körpergröße von 1,70 Metern wiegt er – als Sechstklässler! – sicher siebzig Kilo. Nicht nur aus dem Sportunterricht im letzten Jahr weiß ich, dass er nicht in der Lage ist, diese Körpermasse kontrolliert durch den Alltag zu bewegen. Seine Fortbewegung wirkt wie ein mühsames Stolpern, was besonders bizarre Züge annimmt, wenn er fröhlich durch die Gegend rennt.
    »Diese drei Kreise«, beginnt Jack unsicher, »die malst du immer an die Tafel, wenn …«
    Er

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