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Isch geh Schulhof: Erfahrung

Isch geh Schulhof: Erfahrung

Titel: Isch geh Schulhof: Erfahrung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Möller
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die an mich als Lehrer gestellt werden: die Pausenaufsicht.
    Wenn sechs Jahrgänge mit jeweils vier Klassen à durchschnittlich fünfundzwanzig Kids gleichzeitig auf dem betonierten Hof unserer Schule spielen, ist Hochspannung garantiert. Bei zwei Lehrkräften, die für diese Aufgabe immer gemeinsam eingeteilt werden, bin ich in der nächsten halben Stunde also rein rechnerisch für das Wohlergehen von dreihundert Kindern verantwortlich.
    Wenn’s weiter nichts ist …
    Mit meiner Trillerpfeife und einem belegten Brot ausgestattet betrete ich also die Arena und stelle mich auf pure Action ein. Als nach nur wenigen Sekunden ein Fünftklässler direkt vor meinen Augen aus vollem Tempo aufs Knie fällt, zucke ich unwillkürlich vor Schmerz zusammen. Als Kind habe ich mich gerne über meine Mutter amüsiert, die beim Beobachten meiner Stürze immer ähnliche Reaktionen zeigte, doch inzwischen geht es mir so wie ihr damals. Während der Junge trotz der dicken Hose, die er zu dieser kalten Jahreszeit trägt, mit schmerzverzerrter Miene vom Boden aufsteht, kann ich regelrecht spüren, wie mein Knie mitleidet.
    Dass man dieses Gefühl Empathie nennt, wusste ich zwar schon länger, aber erst in der Uni habe ich erfahren, wie dieses Mitgefühl entsteht. Dafür sorgen nämlich spezielle Nervenzellen in unserem Gehirn, die von ihren Entdeckern passenderweise Spiegelneuronen genannt wurden. Diese ganz besonderen Zellen spiegeln in unserem Gehirn nämlich genau die Gefühle wider, die wir bei anderen beobachten. Ohne Spiegelneuronen würde uns jedes Lächeln, jede Träne und jeder Wutausbruch anderer Menschen vollkommen kalt lassen, denn nur die Existenz dieser Nervenzellen sorgt dafür, dass wir das Gesehene selbst empfinden. Sowohl Mitgefühl als auch Intuition, vor allem aber das Nachahmen von Gestik oder Mimik wären ohne sie nicht möglich, weshalb Hirnforscher die Spiegelneuronen als physiologische Grundlage emotionaler Intelligenz bezeichnen. Sämtliche Entwicklungs- und Kommunikationsprozesse, die wir erleben, erfordern die ständige Mitarbeit dieses verdammt klugen Prinzips der Reflexion.
    Daran muss ich während meiner Arbeit als Lehrer sehr oft denken, denn nicht nur Freude oder Schmerz, sondern auch das Gefühl der Einsamkeit und der sozialen Ausgrenzung übertragen sich hier in jeder Minute unfreiwillig auf meinen gesamten Fühl- und Denkapparat. Ein dicker Junge in Armeekleidung, der in diesem Moment vor meinen Augen allein über den Hof schlendert, ist der nächste Auslöser solch bedrückender Gefühle in mir. Er hört auf den außergewöhnlichen Namen Terrence, ist stark übergewichtig, hat heftige X-Beine und trägt eine Brille, die seinen Silberblick massiv verstärkt. Zu seiner Tarnkleidung haben ihm seine Eltern den passenden Ultrakurzhaarschnitt verpasst, und so erfüllt Terrence sämtliche Kriterien für die Rolle des Opfers.
    »Kummaaaa, er ist ieberfett, vallah!«, kommentiert eine Mitschülerin seine Versuche, sich irgendeiner Gruppe anzuschließen.
    »F’jeden, er sieht aus wie Krieg, Alta«, meint eine andere.
    »Geh ma weg, du fetter Krüppel!«, ruft ihm ein Junge hinterher und erntet für die Aktion den Beifall seiner Freunde.
    An dem Verhalten der Schüler zeigt sich deutlich, dass wir Menschen zwar mit der hirnphysiologischen Voraussetzung für Empathie auf die Welt kommen – die Fähigkeit, uns tatsächlich in andere hineinversetzen zu können, ihre Gefühle zu teilen und deshalb ein natürliches Interesse am Wohlergehen anderer Lebewesen zu haben, muss jedoch durch eine stabile Erfahrung von Mitgefühl im Säuglings- und Kleinkindalter erlernt werden. Ich erinnere mich zwar an Situationen, in denen ich als Kind an der Ausgrenzung anderer Kinder beteiligt war, aber im Vergleich zu den Aktionen auf diesem Schulhof erscheinen mir unsere Späße geradezu billig. Außerdem hatte ich das Glück, in meiner Kindheit immer wieder an Erwachsene zu geraten, die mir die Grenzen meines Verhaltens deutlich aufgezeigt haben, sodass ich ein Gefühl für die emotionalen Schmerzgrenzen meiner Mitmenschen entwickeln konnte. Das massiv rücksichtslose Verhalten vieler Kinder auf diesem Hof erweckt in mir allerdings nicht den Eindruck, als hätten solche Lernprozesse jemals bei ihnen stattgefunden.
    »Erinnere dich mal an deine Kindheit«, flüstert mir das Teufelchen auf meiner rechten Schulter ins Ohr. »Du hast auch Mist gebaut!«
    »Stimmt«, meldet sich das Engelchen auf der linken Schulter zu Wort, »aber

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