Isch geh Schulhof: Erfahrung
anderer unterbricht ihn: »Was redest du, ja?« Der ausgestreckte Arm darf nicht fehlen! » ER hat zu IHN gesagt!«
Als die beiden mein Was-redet-ihr-da-eigentlich?-Gesicht erblicken, schnalzen sie mit der Zunge und imitieren dann Görkans bedrohlichen Gang. Mühsam versuche ich das Geschehen zu rekonstruieren.
Danach sind immerhin fünfzehn Minuten der Pause rum. Mehr als die Hälfte, geil!
Plötzlich steht Geierchen vor mir.
»Wat hast ’n du da im Jesicht?«
Stimmt ja, die Rotze. Ist inzwischen festgetrocknet. Egal, ich reibe sie mit der Hand weg.
Geierchen grinst mich breit an.
»Kommste mit Kaffe trinken, eene rochen?«
»Nee, Rolf, ich hab Aufsicht. Guck doch, was hier los ist.«
Und da fällt es mir auf: Die Garage mit den Spielzeugen ist offen. Von dort können sich Schüler unter anderem Holzbretter leihen, die mit vier Rollen und einem Seil versehen wurden.
»Ach du Scheiße«, fällt Geierchen ein. »Die Hartz- IV -Skateboards. Ick verkrümel mir!«
Das Spiel mit den Dingern ist bereits in vollem Gange: Ein kleinerer Schüler kniet auf dem Brett, während einer der Älteren das Seil in der Hand hat und den kleinen um sich herum schleudert. Von diesen Duos gibt es dann drei bis vier, die gegenseitig versuchen, sich von den Brettern zu rammen. Falls nach ein paar Versuchen nichts passiert ist, hilft einer der Größeren schon mal mit dem Fuß nach. Wer vom Brett fliegt, landet automatisch mit den Knien auf dem Asphalt. Tränen, Blut, Sekretariat, Pflaster, Rest der Pause auf der Krankenbank. Besonders klug sind die Kids, die sich auf die Boards stellen und rufen: »Zieh misch mal, vallah!«
Schon beim Gedanken an das Ergebnis dieser Aktion tun meine Ellenbogen und mein Hinterkopf weh.
»Ach, Philipp«, sagen die Kollegen immer, wenn ich dafür plädiere, die Dinger abzuschaffen, »womit sollen die denn sonst spielen?«
Mit empathisch gefühlten Ganzkörperschmerzen beobachte ich das Hartz- IV -Boarding, und obwohl ich mich kurz vor den Zusammenstößen abwende, bleiben mir die Simultanschmerzen nicht erspart. Da die Gehirne von uns Menschenaffen eine gigantische unbewusste Festplatte enthalten, reichen den Spiegelneuronen nach ein paar Lebensjahren schon die Anfänge einer Bewegung aus, um aktiv zu werden. Den Ausgang basteln sie dann selbst zusammen und belohnen uns im Anschluss mit den passenden Gefühlen.
Hinter vorgehaltener Hand wage ich einen Blick auf die Uhr: dreiundzwanzig Minuten vorbei. Ich kann also mit dem Einsammeln anfangen. Im Tonfall eines Gefängniswärters scheuche ich die Kids in das Schulgebäude und laufe auf meinem Weg in die nächste Stunde an der Krankenbank vorbei. Drei Kids sitzen dort. Nase, Knie und Röbelsäule.
Eigentlich eine ganz normale Hofpause.
24
Nicht anders, schlimmer
I n der Vorstellungswelt eines Grundschülers, daran erinnere auch ich mich sehr gut, gibt es keine größere Zäsur als den Übergang von der Grund- in die Oberschule. Dieses einschneidende Erlebnis, das die allermeisten Berliner Schüler zwei Jahre später durchmachen als die restlichen Kinder der Republik, steht auch den Kids meiner 6a bald bevor. Das Halbjahreszeugnis der sechsten Klasse kommt kurz nach dem Jahreswechsel im rasenden Tempo auf sie zu, und weil es als Bewerbungszeugnis für die Oberschule gilt, ist es das wichtigste Zeugnis der gesamten Grundschulzeit. Anhand dieser Sammlung subjektiv zusammengestellter Zensuren wird also die nächste Weiche im Leben unserer Schüler gestellt.
Geierchen, der mich schon länger für seine Ausflüge einsetzt, hat mich mit der nächsten Expedition in die echte Welt beauftragt: Der Besuch an einer Oberschule steht an. Nach einer längeren Busfahrt erreichen wir einen flachen Betonbunker, doch bevor wir diesen betreten können, müssen wir zunächst an den Oberschülern vorbei. Angesichts der rauchenden, verpickelten, laut pöbelnden Teenager könnte das ein spannendes Unterfangen werden.
»Kumma, diese kleinen Pisser, Alta!«, lispelt einer von ihnen, als wir am Haupteingang der Schule ankommen.
Seine Hosen hat er sich in die Socken gesteckt, und seine viel zu kurze, geöffnete Jacke gibt den Blick auf einen Ed-Hardy-Pullover frei. Diese Marke ist aus mehreren Hundert Metern an den völlig überladenen, kreischend bunten Mustern zu erkennen, die gern in der gruseligen Mischung aus Rosen und Totenköpfen präsentiert werden. Weil der geneigte Ed-Hardy-Träger für diese mit Plastiksteinchen dekorierten Stil-Backpfeifen im Original
Weitere Kostenlose Bücher