Isch geh Schulhof: Erfahrung
glücklicherweise hast du dafür Ärger bekommen – sonst würdest du heute vielleicht immer noch Mist bauen!«
Weil aber auch für das Erlernen von Empathie gilt, dass Hans umso schwerer lernt, was Hänschen nicht gelernt hat, bin ich nahezu pausenlos dabei, den Kids ihre Grenzen aufzuzeigen und ihnen die Gefühle ihrer Streitpartner möglichst greifbar zu vermitteln.
Das traurige Lächeln, das Terrence mir zuwirft, erwidere ich intuitiv, dann schlendert er weiter auf seiner erfolglosen Suche nach sozialer Anerkennung. Ich hoffe inständig, dass die Sorgen solcher Kids von Sonderpädagogen aufgefangen werden, mache mir dabei aber wenig Illusionen. Aus meiner Arbeit in der Erweiterten Schulleitung weiß ich inzwischen, dass der Bedarf an Personal, das für den Umgang mit sozialen Härtefällen geschult ist, gerade mal zu zehn Prozent gedeckt ist. Nicht einmal die Elendsverwaltung funktioniert also.
Irgendwann, denke ich mir, rastet eines dieser Kinder mal aus, und zur mitgefühlten Einsamkeit und Verzweiflung, die ich gegenüber Terrence empfinde, gesellt sich wieder einmal die ernsthafte Sorge um die Zukunft unserer Gesellschaft.
Die kleine Lütfiye reißt mich aus meinem Weltschmerz.
»Herr Mülla, komm schnell! Es gibt ein Schlägerei, und einer heult ieberkrass!«
Bei meiner Ankunft windet sich Jeremy, einer meiner Sportschüler aus der zweiten Klasse, vor Schmerz im Sand und hält sich dabei den Rücken. Als ich ihn frage, was passiert sei, zieht er sein Gesicht aus dem Sand, das mit einer lustigen Panade aus Tränen, Rotze und Sand geschmückt ist. Ich muss ein bisschen lachen, und so verzieht sich auch sein wut- und schmerzverzerrtes Schnitzelgesicht unwillkürlich zu einem schiefen Lächeln.
»So ein Junge … Er hat misch erwürgt!«
Erwürgt? Dafür wirkt Jeremy aber recht lebendig.
»Außerm«, setzt er hechelnd fort, »er hat misch Röbelsäule geschlagen!«
»Wohin hat er dich geschlagen?«
» RÖ - BEL - SÄU - LE !«, brüllt Jeremy, und einige Teile der Panade fliegen dabei von seinem Gesicht. An seiner Körperhaltung erkenne ich, dass er seine Wirbelsäule meint. Dann zeigt er auf einen Drittklässler, der die ganze Szene offensichtlich schon länger beobachtet und schnell wegguckt, als wir ihn erblicken. Es ist Burhan, ein überdurchschnittlich sportlicher, aber leider auch äußerst aggressiver Junge. Auch heute trägt Burhan das Fußballoutfit, mit dem er bei jedem Wetter in die Schule kommt. Als ich auf ihn zugehe, verschränkt er die Arme, zieht beide Augenbrauen zusammen und setzt einen Schmollmund auf. Sein Puls steigt sichtbar und er nimmt Jeremy ins Visier, der hinter mir auf ihn zuläuft.
Auf meine Bitte, den Vorfall zu erklären, regt Burhan keine Miene, sondern durchbohrt Jeremy mit einem mörderischen Blick. In meiner behüteten Kindheit hätte ich mir angesichts einer solchen Konfrontation vermutlich vor Angst in die Hosen gepullert.
»Burhan?«, frage ich eine Spur strenger.
Er fängt an, so heftig durch die Nase zu atmen, dass die Rotze immer raus- und reingezogen wird. Ich weiche etwas zurück, denn eine Sorte Kinderrotz reicht mir für heute.
Dann, aus heiterem Himmel, brüllt er: »Er hat misch Ficka gesagt!«
»Was redet er, ja?«, kontert Jeremy blitzschnell.
Während dieser sehr häufig gestellten Frage ist es offensichtlich wichtig, immer mit durchgestrecktem Arm und offener Handfläche auf das Gesicht des Befragten zu deuten.
»Is nisch so, wa?«, erwidert Burhan wild gestikulierend, bevor er von einem rasenden Wutanfall heimgesucht wird. »Sch’wöre«, schreit er, »er hat misch Ficka gesagt, ja? Aber sch’ab ihn gesagt, sch’ab keine Angst! Sch’ab keine Angst vor ihn, ja?«
Die Tränen schießen ihm in die Augen, er verliert die Kontrolle über sich und will wieder auf Jeremy losgehen. Mit ausgestrecktem Arm und den lauten und deutlichen Worten »Burhan, beruhig dich, ich bin Lehrer!« kann ich ihn gerade noch zurückhalten, blind auf Jeremy einzudreschen.
Diesen Satz muss ich oft sagen, wenn sich bei den Kids der Aggroschalter umlegt und sie nur noch eine Farbe sehen: Rot! Er erinnert sie daran, dass sie in der Schule sind, wo ihr Handeln (manchmal) auch Konsequenzen hat.
Voll blindem Hass rotzt Burhan auf den Boden, guckt Jeremy an und zischt: »Sch’wöre, nach der Schule isch ficke deine Leben!«
Dabei stellt er sich auf die Zehenspitzen und hält seine zur Pistole geformte Hand von schräg oben an Jeremys Kopf und zieht ab. Dann stampft er
Weitere Kostenlose Bücher